Figuren

Am besten lernt man Thomas Manns Werk über die unverwechselbaren Charaktere kennen, die er geschaffen hat. Damit Sie die Bekanntschaft mit diesen Figuren machen oder auffrischen können, hat unser Autor Thomas Klugkist seine umfangreiche Figurensammlung aus dem Bestseller 49 Fragen an Thomas Mann exklusiv für diese Seite erweitert. Wir wünschen Ihnen bei dieser biografischen Einleitung viel Vergnügen!

Buddenbrooks

Christian Buddenbrook: Der Bruder des Senators Thomas Buddenbrook und Vertreter der dritten Generation. Christian Buddenbrook ist ein Nachfahre des Bajazzo, ein hypochondrischer Décadent, der es über den Versuch mit dem Arbeitsleben nicht hinausbringt. Seine größten Momente hat er, wenn er seinem komödiantischen Talent die Zügel schießen lässt; von jedem Ernst fühlt er sich überfordert. Seine nervöse Reizbarkeit gipfelt schließlich in der Einweisung in eine Nervenheilanstalt. Für Thomas Buddenbrook ist sein Scheitern eine bleibende Warnung, weil Christian auslebt, was er selbst sich aus Pflichtgefühl versagt. Reales Vorbild für Christian Buddenbrook war Friedrich Wilhelm Leberecht Mann, der jüngere Bruder von Thomas Manns Vater.

Gerda Buddenbrook: Die Ehefrau des Senators Thomas Buddenbrook. Gerda Buddenbrook kommt vom nordischen Meer, bleibt schemenhaft in der bürgerlichen Umgebung, erfüllt nur das Minimum ihrer Pflichten, um sich desto ausschweifender der Metaphysik der Musik zu widmen, und entschwindet zurück in die Ferne. Am inneren Leben ihres Mannes nimmt sie fast gar nicht teil; ob sie ihn mit dem Leutnant betrügt, bleibt offen. Den einzigen Sohn entfremdet sie nicht nur der Welt der Pflichten, sondern auch gleich dem Leben. Thomas Mann porträtierte in ihr zumindest einige Züge seine Mutter Julia Mann.

Jean Buddenbrook: Der Vater des Senators Thomas Buddenbrook und seiner drei Geschwister Christian, Tony und Clara. Konsul Jean Buddenbrook ist der erste Buddenbrook, der nicht nur über seine Gedanken, sondern auch über seine Gefühle reflektiert. Obwohl er als junger Mann entschlossen um sein Leben kämpft, bringt er als Firmenchef nicht mehr die Vitalität zur Expansion auf. Sein Ziel ist sowohl geschäftlich als auch politisch die bloße Bewahrung und Sicherung des Erreichten. Jeans Religiosität indessen macht ihm selbst das schwer: Wo sie anstelle des Instinktes leitet, wie etwa in der Wahl Grünlichs als Schwiegersohn, sind Fehlentscheidungen programmiert. Hinter der Figur Jean Buddenbrooks steht Thomas Manns Großvater Johann Siegmund Mann II.

Hanno Buddenbrook: Im Roman von 1901 der einzige Sohn des Senators Thomas und Gerda Buddenbrook, einziger Vertreter der vierten Generation. In Hanno ist von der einstigen Vitalität der Buddenbrooks fast nichts mehr übrig. Kränklich, verträumt und einsam, gibt er sich der fremden Macht seiner Mutter und der Musik anheim. Im Grunde will er nicht leben; sein früher Tod ist, wie bei seinem Vater, ein erlösender Ausbruch aus dem kalten Gefängnis der Pflichten. Thomas Mann porträtierte in ihm seine eigene Kindheit – vor allem seine Erfahrungen mit der Schule, dem Meer und der Musik. Ursprünglich waren die Buddenbrooks nur als Geschichte Hannos einschließlich seiner Vorgeschichte gedacht.

Konsulin Elisabeth Buddenbrook: Die Ehefrau des Konsuls Jean Buddenbrook, Vertreterin der zweiten Generation. Die Konsulin erweist sich als überaus vital; noch ihr schweres Sterben zeugt von ihrem Willen zum Leben. Mit ihrer luxuriösen Erscheinung allerdings versucht sie bereits ebenso wie später Thomas, die Umwelt über den tatsächlichen Niedergang der Familie zu täuschen. Zudem begründet der Hang zur Schauspielerei auch ihren zunehmenden Umgang mit den weltfremden Vertretern des Christentums. Reales Modell der Konsulin war Thomas Manns Großmutter Elisabeth Marty, die zweite Frau von Johann Siegmund Mann II.

Thomas Buddenbrook: Hauptfigur des 1901 erstmals veröffentlichten Romans, Vertreter der dritten Generation und Erbe der Firma. Thomas ist ebenso wie sein Bruder Christian ein kränklicher Décadent; das Bürgerlich-Lebenstüchtige ist ihm ebenso verschlossen wie jenem. Doch anders als Christian überwindet er sich zur Leistung, übernimmt er die patriarchalische Aufgabe immerhin noch als Rolle – und wird so zu einem modernen „Helden der Schwäche“. Die Empfänglichkeit für Schopenhauers Metaphysik und der frühe Tod offenbaren, wie begrenzt seine Lebenskraft von Anfang an gewesen ist. In der Figur Thomas Buddenbrooks setzte Thomas Mann zugleich seinem Vater und seinem Selbstideal ein literarisches Denkmal.

Tony Buddenbrook: Schwester des Senators Thomas Buddenbrook und Vertreterin der dritten Generation. Tony Buddenbrook hält die Würde der Familie hoch und scheitert an der Aufgabe, sie durch eigene Leistungen zu heben. Ihre teilweise rührende Naivität aber bleibt ungebrochen – so dass sie weniger mit den Décadents Thomas und Christian als mit ihren unangekränkelten Vorfahren gemeinsam hat. Biografisches Vorbild war Thomas Manns Tante Elisabeth, die ältere Schwester seines Vaters Thomas Johann Heinrich Mann.

Bendix Grünlich: Im Roman von 1901 der erste Ehemann Tony Buddenbrooks. Bendix Grünlich ist ein Schauspieler und skrupelloser Betrüger. Jean Buddenbrook spielt er den Christenmenschen, Tony den romantischen Liebhaber vor; erst mit der Rolle des reuigen Sünders scheitert er. Dass er überhaupt betrügt, macht im Roman den Gelderwerb verdächtig; dass er es schafft, die Buddenbrooks zu täuschen, markiert ihren Wechsel von der Seite der Täter zur Seite der Opfer in der Geschäftswelt. Als Modell verwendete Thomas Mann den Hamburger Kaufmann Ernst Elfeld, der Elisabeth Mann wegen ihrer Mitgift heiratete und trotz dieser Finanzhilfe kaum ein Jahr später Bankrott machte.

Hagenströms: Im Roman von 1901 die aufstrebenden Rivalen der absteigenden Familie Buddenbrook. Die Hagenströms erben die Rolle und Bedeutung der Buddenbrooks - und werden nach menschlichem Ermessen am Ende dasselbe Schicksal erleiden. Während Hermann Hagenström und seine Kinder noch über die ganze Brutalität der Gesunden verfügen, ist sein ebenfalls erfolgreicher Bruder Moritz bereits ein wenig schwach auf der Brust, leidet er an schadhaften Zähnen und neigt zur Schöngeisterei. Im Falle von Moritz' Sohn Bob und seiner Verlobung treten bereits wie bei den Buddenbrooks Pflicht und Neigung auseinander. Die Degeneration erweist sich in ihren ersten Vorzeichen als ein Gesetz, das keine Ausnahmen kennt.

Alois Permaneder: Im Roman von 1901 der zweite Ehemann Tony Buddenbrooks. Alois Permaneder ist ein bayerischer Gemütsmensch, der sich mit Tonys Mitgift den Traum eines Frührentner-Daseins erfüllt. Anders als Grünlich ister kein Krimineller - auch wenn er Tony seine eigentlichen Absichten verheimlicht und an ihrer Person ebenso wenig interessiert ist wie der Hamburger. Er lässt nur jeden sozialen Ehrgeiz vermissen - und entlarvt damit auch das enge Prestigedenken der Buddenbrooks. Eine Alternative können sie in seinem risikolosen Behagen am Leben nicht erkennen. In der Realität war der zweite Ehemann von Thomas Manns Tante Elisabeth der Esslinger Kaufmann Gustav Haag, der ebenso wie der erste Gatte die Mitgift einstrich und dennoch Bankrott machte. Um hier eine bloße Wiederholung zu vermeiden, erfand Thomas Mann die Figur Permaneders und ließ sich über die schockierenden Möglichkeiten seines Dialekts vom kleineren Bruder Viktor informieren.

Leutnant von Trotha: Der Mann, mit dem Gerda Buddenbrook nach Meinung der Lübecker Gesellschaft die Grenzen des Sittsamen überschreitet. René Maria von Trotha, bei einem der Infanteriebataillone garnisoniert, macht trotz einer großen und starken Erscheinung einen insgesamt unmilitärischen Eindruck. Er trifft sich mit Gerda auf dem Gebiet der Musik. Wenn die melodischen Ekstasen verstummen, fängt für Thomas Buddenbrookdie Furcht vor dem Unbestimmten an - die auch einen seltenen Moment der Vertrautheit mit seinem Sohn stiftet.

Morten Schwarzkopf: Im Roman von 1901 die eigentliche Liebe Tony Buddenbrooks. Morten Schwarzkopf ist der Sohn des Travemünder Lotsen, der mit der Tradition seiner Familie bricht, indem er Medizin studiert und im Vorfeld der Revolution von 1848 die politischen Ideen der Freiheit vertritt. Jean Buddenbrook verweigert ihm ungeprüft die Hand seiner Tochter, um sie Grünlich zu geben. Tony hütet die wenigen Wochen mit ihm ein Leben lang als den größten und geheimsten Schatz ihres Herzens.

Sesemi Weichbrodt: Im Roman von 1901 die Lehrerin Tonys und Freundin der Familie. Sesemi Weichbrodt wünscht den Buddenbrooks bei jeder festlichen Gelegenheit mit beharrlicher Naivität das nötige Glück - "Sei glöcklich, du gutes Kend!" - ohne damit ein einziges Mal Erfolg zu haben. Ihr Glaube gegen alle Wahrscheinlichkeit schenkt Zuversicht und macht zugleich die Vergeblichkeit allen Hoffens bewusst. In der Figur Sesemi Weichbrodts legte Thomas Mann zwei reale Menschen zusammen: Therese Bousset, die Inhaberin eines Lübecker Töchterpensionats, und ihre alte Mutter, deren Spracheigenheiten er übernahm.

Hugo Weinschenk: Im Roman von 1901 der Ehemann von Tony Buddenbrooks Tochter Erika. Der Versicherungsdirektor macht mit Grünlich und Permaneder das Trio der schlechten Partien komplett. Als ungehobelter Aufsteiger und Außenseiter ist er ohnehin nur schlecht geeignet, Tonys doppelte Scharte wieder auszuwetzen. Sein eigentlicher Fehler aber ist nicht die Skrupellosigkeit, sondern die Schwäche: Die Familie Hagenström schlägt ihn erfolgreich, um die Buddenbrooks zu treffen; sein Sturz erfolgt nicht trotz, sondern wegen seiner Heirat.

 

 

Königliche Hoheit

Großherzogin Dorothea: Die schöne, aber kühle und ferne Mutter von Klaus Heinrich und Albrecht. Zuwendungen schenkt sie ihren Kindern nur im Rahmen des höfischen Zeremoniells und mit Blick auf die männlichen Zeugen. Alsdas Alter seinen optischen Tribut fordert und sich nicht mehr überdecken lässt, zieht sie sich von aller Gesellschaft zurück und verfällt allmählich in geistige Trübung und Verstörung. Thomas Mann spiegelte in der Großherzogin Züge seiner Mutter, die auch in der Senatorin Rodde des Doktor Faustus wiederkehren.

Klaus Heinrich: Stark autobiografisch gefärbte Hauptfigur des Romans von 1909. Dem Prinzen Klaus Heinrich, wie sein Bruder ein Décadent, gelingt es, aus seinem rein repräsentativen, symbolischen Dasein auf dem Wege einer reichen, bürgerlichen Heirat in die Wirklichkeit hinüberzutreten - und sein verarmtes Fürstentum dabei zu retten. Thomas Mann machte, indem er die Geschichte seiner Brautwerbung und Heirat mit Katia Pringsheim ins Aristokratische übersetzte, aus dem "Prinzenspiel" seiner Kindheit literarischen Ernst. Mit dem Zielpunkt einer zugleich persönlichen und überpersönlichen Erlösung weist Klaus Heinrich vor allem auf Joseph, den Ernährer, voraus.

Percy: Der Hund von Imma Spoelmann, der Braut Klaus Heinrichs. Der Collie Percy ist die Parodie eines degenerierten, hochnervösen Adeligen. Dass Imma so an ihm hängt, obwohl ein "Kundiger" ihn schlicht für geisteskrank erklärt hat, kündigt frühzeitig ihre Empfänglichkeit für die Fürsten-Familie an.

Der Zauberberg

Hans Castorp: Der "naive Held" des Romans von 1924. Hans Castorp, der junge Ingenieur aus Hamburg, belehrt sich in der Davoser Sanatoriumswelt über den Menschen und seinen metaphysischen Horizont. Während seiner sieben Jahre kuriert er sich zugleich von seinen idealistischen Illusionen und von seiner verschleppten "Sympathie mit dem Tode". Am Ende steht der Untergang der dekadenten Friedenswelt - und sein sittlicher Entschluss, sich aus dem Wissen um den Tod in den Dienst des Lebens zu stellen.

Clawdia Chauchat: Im Roman von 1924 die erotische Herausforderung Hans Castorps. Madame Chauchat, eine katzenhafte Russin von zunächst empörender Lässigkeit, lässt Hans Castorp nach und nach die Welt der Pflichten vergessen - mit dem Höhepunkt einer jahrelang abgewarteten, gemeinsamen Nacht. Zugleich aber lernt er von der "femme fatale" den Wert des Mitleids kennen. Ihre etwas schlappe "Menschlichkeit" inspiriert Castorp zu seiner humanistischen Vision, wird zur Motivation und Rechtfertigung seines disziplinierten Lebensdienstes.

Pribislav Hippe: Im Roman von 1924 ein Mitschüler Hans Castorps, der ihm einst im Schulhof einen Bleistift lieh. Hans Castorp fühlt sich an ihn durch Madame Chauchats Augen, Backenknochen und Stimme erinnert. Das sexuelle Symbol des Bleistifts weist auf die reale Walpurgisnacht mit der Russin voraus; zugleich erhält Castorps anhaltende Faszination einen deutlich homophilen Akzent. Hinter Pribislav Hippe steht Williram Timpe, der Sohn des Oberlehrers, bei dem Thomas Mann 1892 in Pension war.

Daniel zur Höhe: Im Roman von 1947 eine Randfigur, Mitglied des Kridwiß-Kreises. Daniel zur Höhe ist dort derdichterische Verkünder eines imperialistischen Christus-Nachfolgers. Gemeinsam mit vor allem Helmut Institoris repräsentiert er den Typus des verantwortungslosen Ästheten. Thomas Mann porträtierte in ihm, wie schon in der Erzählung Beim Propheten von 1904, den George-Schüler Ludwig Derleth.

Leo Naphta: Im Roman von 1924 der Gegenspieler Settembrinis, einer der Lehrmeister Hans Castorps. Leo Naphta,Jesuit, Kommunist und Ostjude, hält gegen die neuzeitliche Welt der Ratio die mittelalterliche Religiosität, Askese, Kontemplation und Leidensmystik - während er, anders als der verarmte Settembrini, im relativen Luxus lebt. Politisch erweist er sich als Anwalt des totalitären Gottesstaates und des gerechten Krieges. Auf dem Höhepunkt des verwirrenden und zermürbenden Streites fordert er Settembrini zum Duell und richtet, da jener den finalen Schuss verweigert, die Waffe gegen sich selbst. Thomas Mann lieh sich für die Figur Züge des ungarischen Literaturhistorikers und Philosophen Georg Lukács.

Mynherr Peeperkorn: Im Roman von 1924 der spät auftretende Gefährte Clawdia Chauchats, einer der Lehrmeister Hans Castorps. Peeperkorn, ein Holländer aus Java, lässt als naturgewaltige Persönlichkeit die beiden "Schwätzerchen" Naphta und Settembrini "verzwergen". Hans Castorp versucht, an seinem Beispiel das Geheimnis des großen Mannes zu lüften, doch beschränkt sich angesichts der anhaltenden Unfähigkeit Peeperkorns, seinen elementaren Bedeutungsanspruch mit Inhalten zu füllen, schließlich auf das tragische Mitleid. Auf der symbolischen Ebeneerweist sich Peeperkorn als eine Mischung von Dionysos und Christus. Gerhart Hauptmann bot Thomas Mann die nötige reale Anschauung.

Joachim Ziemßen: Im Roman von 1924 der Vetter Hans Castorps. Joachim Ziemßen ist Soldat und moribund; den langjährigen Davoser Sanatoriums-Aufenthalt begreift er als einen strengen "Kurdienst", den er pflichtbewusst erfüllt. Dass er schließlich ins Flachland "desertiert", kostet ihn das Leben. Hans Castorp übernimmt schließlichauch von ihm etwas in seine bürgerliche Idee der Mitte: den Sinn für die lebenserhaltende Funktion der Disziplin.

Ludovico Settembrini: Im Roman von 1924 der Gegenspieler von Naphta, einer der Lehrmeister Hans Castorps. Settembrini, der italienische Humanist, will Hans Castorp zur Wertewelt des Flachlandes erziehen, zur Ratio und zum tätigen Leben. Politisch kämpft er für die Menschenrechte und für die notfalls revolutionär errungene Demokratie. Gegen Castorps Liebes- und Todessehnsucht vermag der "Leierkastenmann" zwar über weite Strecken wenig auszurichten. Am Ende aber ist er es, mit dessen Freundessegen sich das "Sorgenkind des Lebens" vom Hochland verabschiedet.

Josephsroman

Abraham: In Thomas Manns Roman-Tetralogie nicht nur der Urvater Israels, sondern auch des von ihm "hervorgedachten" Gottes. Das Bild des religiösen Genies und Kriegers, des göttlichen Bundesgenossen und willigen Opferpriesters seines Sohnes Jizchak gilt allerdings schon Jaakob und Joseph als fromme Zusammenziehung einer ganzen Geschlechterfolge. Die Hybris der Nachkommen findet sich auch bei dem Ur-Wanderer und -Gründer als kraftvoller Wille, nur dem Höchsten zu dienen - und nur von ihm sich das Haupt erheben zu lassen.

Jaakob: In Thomas Manns Roman-Tetralogie ein ausdrucksstarker Schauspieler und bauernschlauer Karrierist, der
echte Vorgänger seines komödiantisch hochbegabten Sohnes Joseph. Indem er ihn mit dem göttlichen Recht auf Gnadenerwählung seinen Brüdern vorzieht und in den alten Geschichten unterrichtet, ebnet er ihm unwissentlich, seiner mythischen Rolle gemäß, den Weg an die Spitze Ägyptens. Nach dem Ende der Trennung von seinem Liebling - eine Buße der eigenen Hybris - stirbt der Herdenkönig lebenssatt und feierlich im patriarchalischen Alter von hundertundsechs Jahren.

Joseph: Titelfigur der 1943 abgeschlossenen Roman-Tetralogie. Thomas Mann schildert den biblischen Joseph als
einen mythischen Hochstapler, der mit traumwandlerischer Sicherheit sein Schicksal in die Hand nimmt, indem er interpretierend die Muster des Göttlichen erfüllt. Dank seiner Orientierung am Höchsten findet er auf dem Wege seiner narzisstischen Selbstverwirklichung schließlich auch zum Dienst an der Gemeinschaft, zur vorgeprägten Rolle des Ernährers. Innerhalb der Thomas Mann'schen Werkgeschichte geht Joseph in den Spuren vor allem Klaus Heinrichs und Felix Krulls; ebenso wie sie ist er ein Selbst-Ideal des Autors.

Mont-kaw: In Thomas Manns Roman-Tetralogie der Meier Potiphars. Mont-kaw erhebt Joseph, seiner schmeichelndenRede wegen, zu seinem Lehrling, schließt mit ihm einen Bund zugunsten ihres ebenso edlen wie schonungsbedürftigen Herrn und übergibt ihm schließlich nahezu vollständig die Geschäfte des Hauses. Seine Seelengröße beweistsich, anders als im Falle Josephs und seiner Vorfahren, in der Bescheidenheit, mit der er Schicksalsschläge, eine lange Reihe von Krankheiten und schließlich auch seinen Tod annimmt.

Mut-em-enet: In Thomas Manns Roman-Tetralogie die Gemahlin des Potiphar. Mut entbrennt in Leidenschaft für Joseph und rächt sich für seine Zurückweisung mit einer Verleumdung, die ihn erneut "in die Grube" wirft. Ihre Leidenschaft selbst vollzieht sich wie im Falle Aschenbachs als tragische "Rückkehr des Verdrängten" - als "Lied vom errungenen, scheinbar gesicherten Frieden und des den treuen Kunstbau lachend hinwegfegenden Lebens". Inihren inspirierten Reden auf den Geliebten zitiert die schauerlich "Berührte" aus den Briefen Thomas Manns anPaul Ehrenberg.

Lotte in Weimar

Goethe: Im Roman von 1939 eine ebenso überragende wie tief fragwürdige Gestalt, die, ebenso wie das Göttliche selbst, nicht das Gute, sondern das Ganze repräsentiert. Die sieben Kapitel enthüllen nach und nach seine Kälte und umfassende Ironie, seinen Nihilismus und seine gefährliche Übermacht - um am Ende seiner poetischen Menschwerdung in Lottes Wagen die Bahn zu bereiten.

Doktor Faustus

Chaim Breisacher: Im Roman von 1947 die Gallionsfigur des Kridwiß-Kreises. Chaim Breisacher, jüdischer Privat
gelehrter und "Paradoxenreiter", unterhält in den Jahren der Weimarer Republik die gelangweilte bessere Gesell
schaft mit einer Interpretation der gesamten Kultur als Verfallsgeschichte. Thomas Mann montierte seine snobistischen, dem Nationalsozialismus bahnbrechenden Reden aus dem Gedankengut der "Konservativen Revolution" zusammen - vor allem aus Gedanken Oskar Goldbergs und Oswald Spenglers.

"Echo" Nepomuk Schneidewein: Im Roman von 1947 der Neffe und die letzte Liebe Adrian Leverkühns. Der bezaubernde Echo stirbt während eines längeren Aufenthaltes nach schlimmer Krankheit in der Obhut seines Onkels - was der auf sein Sündenregister schreibt. Auf der symbolischen Ebene wird hinter Echo eine lange Reihe hoher Vorgänger sichtbar - von Shakespeares Ariel über Goethes Euphorion und den Mythos des "göttlichen Kindes" bis hin zu Christus. Mit Echo geht darum auch die letzte Hoffnung, der Erlöser zugrunde. Reales Vorbild war Thomas Manns Enkel Frido, Sohn von Michael Mann.

Saul Fitelberg: Im Roman von 1947 der jüdische Impresario, der Adrian Leverkühn vermarkten will. Saul Fitelberg verspricht dem einsamen Genie, ihm "die Reiche dieser Welt und ihre Herrlichkeit" zu Füßen legen - und empfiehlt sich wieder nach einer hochintelligenten Suada. Als dialektischer Rhetoriker und aufdringlicher Verkäufer, als bloßer Rezipient und Kritiker bestätigt er eine ganze Reihe jüdischer Klischees. Auf der symbolischen Ebene fungiert er sogar als Teufels-Maske. Um dem Vorwurf des Antisemitismus zu begegnen, hat Thomas Mann sich lediglich auf die humoristische und insofern einnehmende Darstellung der Figur berufen.

Helmut Institoris: Im Roman von 1947 der betrogene Ehemann von Ines Rodde, Mitglied des Kridwiß-Kreises. Helmut Institoris veranschaulicht den Zusammenhang zwischen Ästhetizismus und Barbarei: Selbst schwach und kränklich, verherrlicht und verkündet er die Schönheit des brutalen Lebens. Nach Ines Roddes Mord an Schwerdtfeger allerdings findet er von seinem fiebrigen Optimismus zu einem wesentlich gesünderen Pessimismus zurück. Thomas Mann kritisierte in ihm den "Renaissancismus" der Jahrhundertwende und die "ruchlosen" Neigungen der Décadence,
auf den Spuren Nietzsches den Animalismus der Instinkte zu feiern. Ihm selbst war das psychologische Muster aus seiner eigenen Bewunderung des "Lebens", der blonden und blauäugigen Gewöhnlichkeit vertraut.

Sixtus Kridwiß: Im Roman von 1947 der unscheinbare Gastgeber von ebenso ahnungsvollen wie reizsüchtigen Diskussionsabenden. In seinem Hause zelebrieren die gelangweilten Intellektuellen den unterhaltsamen Abschied von der Kultur, um der neuen Welt der Inhumanität, des heraufkommenden Nationalsozialismus, das geschichtlich höhere Recht zuzusprechen. Sixtus Kridwiß trägt Züge von Emil Preetorius, Präsident der Bayerischen Akademie der Schönen Künste in München und Freund der Familie Mann.

Adrian Leverkühn: Hauptfigur des Romans von 1947. Adrian Leverkühn geht in den Spuren des Volksbuch-Fausts: Zu intelligent, um die Verbrauchtheit aller künstlerischen Mittel zu übersehen, und zu stolz, um sie dennoch zu verwenden, braucht der exemplarisch moderne Künstler die vom Teufel angebotene Enthemmung. Den Schaffensrausch und die zuverlässige Herstellung glühender Konstruktionen bezahlt er - nach dem Vorbild der ebenfalls unterlegten Nietzsche-Vita - zunächst mit geistiger Umnachtung, dann mit Tod und womöglich ewiger Verdammnis. Thomas Mann stilisierte in Adrian Leverkühn seine eigene künstlerische Entwicklung zur Parodie und zur leitmotivischen Montage vorgefundener Materialien.

Jonathan Leverkühn: Im Roman von 1947 der Vater von Adrian Leverkühn. Jonathan Leverkühn hat in seiner Physiognomie das ausgehende Mittelalter bewahrt; seine Dürersche Melancholie treibt ihn bereits zu derselben Hybris, die Adrian zum Teufelspakt motiviert. Umgekehrt bringt es der Sohn mit seinen Kompositionen letztlich nicht über die "osmotischen Gewächse" des experimentierenden Vaters hinaus. Reales Vorbild war Max Schweighard, der Herr des Hofes in Polling, auf dem Thomas Manns Mutter Julia ihre letzten Lebensjahre verbrachte.

Rabbiner Dr. Cerlebach: Im Roman von 1947 eine Figur, die nur ein einziges Mal vorkommt, um das Verhältnis zwischen Judentum und Katholizismus zu beleuchten. Während der Pfarrer, Geistl. Rat Zwilling, nach Zeitbloms Auffassung über das bessere Aussehen verfügt, übertrifft ihn der Talmudist an Gelehrsamkeit und religiösem Scharfsinn.

Ines Rodde: Im Roman von 1947 die Tochter der Senatorin Rodde und beinahe eine angenommene Schwester des eingemieteten "Haussohnes" Adrian Leverkühn. Ines Rodde lebt im stolzen Protest gegen die "Entwurzelung" nach demTod des Vaters, gegen den sozialen Abstieg aus dem nordischen Patriziat in die südliche Bohème Münchens. IhreEhe mit Helmut Institoris dient der Aufrechterhaltung der bürgerlichen Fassade; tatsächlich ergibt sie sich immer haltloser dem Ehebruch mit dem "unwürdigen" Geliebten Schwerdtfeger und erschießt ihn schließlich aus Eifersucht. Thomas Mann schilderte mit ihr das Schicksal seiner Schwester Julia, gab ihm jedoch ein Ende, dessen Verlauf er bereits Anfang des Jahrhunderts in einem Zeitungsartikel gefunden hatte.

Kunigunde Rosenstiel: Im Roman von 1947 eine der "bedürftigen Frauenseelen". Ebenso wie die verhuschte Klavierlehrerin Meta Nackedey und in Konkurrenz zu ihr huldigt Kunigunde Rosenstiel, im bürgerlichen Beruf Mitinhaberin eines Darmgeschäfts, dem musikalischen Genie Adrian Leverkühns - und macht so seine im tiefsten priesterliche und königliche Daseinsform sichtbar.

Else Schweigestill: Im Roman von 1947 die rüstige Wirtin von Adrian Leverkühn während der letzten achtzehn Jahre seines geistig gesunden Lebens. Else Schweigestill hat große Ähnlichkeit mit Adrian Leverkühns Mutter - und wird von Zeitblom, der auf die Verwandtschaft des ganzen Hofes mit Adrian Leverkühns Kindheits-Umgebung aufmerksam macht - meist nur "Mutter Schweigestill" oder schlicht "die Mutter" genannt. Sie ist die einzige Figurdes Romans, die wahre Menschlichkeit und kommentarloses Verständnis zeigt. Ihr wirkliches Vorbild war Frau Schweighard, die Wirtin von Thomas Manns Mutter Julia in Polling bei München.

Rudi Schwerdtfeger: Im Roman von 1947 der virtuose Geiger, der mit "knäbischem Ehrgeiz" um Adrian Leverkühn wirbt, während sich seine Geliebte Ines Rodde nach ihm verzehrt. Rudi Schwerdtfeger ist eine Flirtnatur, ein Nachfahre Hans Hansens und Ingeborg Holms - doch insofern nicht ganz so blond und blauäugig, als bereits in seiner Sucht nach Anerkennung durch geistig hochstehende Menschen die Tragödie angelegt ist. Adrian Leverkühn inszeniert das reale Stück, an dessen Ende Ines Rodde den scheinbaren "Sonnenjüngling" aus Eifersucht erschießt. Hinter Rudi Schwerdtfeger steht Paul Ehrenberg, um den Thomas Mann im Winter 1900/ 1901 bis zum Gedanken der Selbstabschaffung litt.

Stall-Hanne: Nebenfigur im Roman von 1947. Die Stallmagd namens Hanne, dank ihres Schlotterbusens eine der Mutter-Figuren, lehrt Adrian Leverkühn mit plärrender Stimme, aber richtigem Ton seine ersten Kanons - und bringt ihn so mit der Polyphonie in Berührung. Symbolisch vertritt sie auch für den erwachsenen Komponisten die Wärme in der Musik.

Helene Zeitblom, geb. Ölhafen: Im Roman von 1947 die Ehefrau des Erzählers Serenus Zeitblom, Tochter eines seiner Amtskollegen. Serenus heiratet seine Helene weniger aus Liebe als aus Ordnungsbedürfnis und dem "Wunsch nach sittlicher Einfügung ins Menschenleben". Ihre Schlichtheit ist trotz des klassischen Vornamens unübertrefflich - und den Interessen ihres Mannes definitiv nicht gewachsen.

Serenus Zeitblom: weite Hauptfigur des Romans von 1947. Serenus Zeitblom ist Freund und Biograph Adrian Leverkühns, der Erzähler des Doktor Faustus. Das künstlerische Mittel, die Lebensgeschichte des "Teufelsbratens" Adrian Leverkühn durch das Medium einer schlichten, liebend verschreckten Seele gehen zu lassen, sollte nach Thomas Mann für die nötige "Durchheiterung" des düsteren Stoffes sorgen. Tatsächlich aber erweist sich der humanistische Pädagoge seinem Gegenstand nicht nur gewachsen, sondern auch verwandt: Er selbst ist wie Adrian Leverkühn ein einsamer und stolzer Ironiker, und auch er ist ein ehrgeiziger Künstler, der von den Problemen der Moderne seinen Ausgang nimmt. Thomas Mann resümierte in ihm zudem seine bürgerlich-politische Entwicklung - so dass er sich aus seinen beiden Protagonisten zusammensetzte.

Felix Krull

Lord Kilmarnock: Vornehmer Bewunderer Felix Krulls, dessen Werben in melancholischer umflorter Bitternis endet. Ebenso wie in Madame Houpflé parodierte Thomas Mann in Kilmarnock die eigene, lebenslang empfundene und stets entwürdigende "Selbstverneinung" zugunsten der blonden Jünglinge - und machte sich unter anderem über seine irritierend klobige Nase über dem feinen Mund lustig.

Felix Krull: Hauptfigur des parodistischen Romans von 1954 (entstanden seit 1910). Felix Krull ist das exemplarische Glückskind, das nur sich selbst als wirklich - und die Welt als großen Traum zur Erfüllung seiner Wünsche begreift. Ebenso wie der Bajazzo bleibt er ein Dilettant im großen Reich des Möglichen, legt er sich weder menschlich noch beruflich noch sozial fest; seine Selbstgenügsamkeit ist die genießerische Seite der selben Einsamkeit, an der etwa Gustav von Aschenbach oder Adrian Leverkühn leiden. Thomas Mann schilderte in Felix Krull den eigenen künstlerischen Narzissmus und zugleich ein homoerotisch ersehntes Selbst-Ideal.

Professor Kuckuck: Gatte und Vater des "Doppelbildes" von Senhora Maria Pia und Zouzou, der ältere, ein wenig altmodisch gekleidete Herr, der Felix Krull auf der Bahnreise nach Lissabon mit leuchtenden Sternenaugen von der Stellung des Menschen im Kosmos erzählt. Krull verdankt ihm eine schließlich rauschhafte Ausweitung seines Inneren - und eine erste Ahnung von der tiefen Verwandtschaft zwischen sämtlichen Erscheinungen der Natur. Hinter dieser Initiation steht Artur Schopenhauer, dem Thomas Mann die wichtigsten Züge und Gedanken Kuckucks entlieh.

Stanko: Kollege und Bettnachbar Felix Krulls im Hotel Saint James and Albany. Stanko, Kroate und Küchengehilfe, beobachtet Felix Krull, während der sein Diebesgut in Augenschein nimmt. Die erpresserische Macht des Spießgesellen wendet sich für Felix allerdings zum Guten, da er Stanko die Adresse eines Hehlers verdankt. Die von beiden Seiten "anständige" Aufteilung des Erlöses adelt die schwer kontrollierbare Geschäftsbeziehung schließlich sogar noch zu einem Handel unter Ehrenmännern.

Frühe Erzählungen

Johannes Friedemann (Der kleine Herr Friedemann): Titelfigur der Erzählung von 1897, in der Thomas Mann erstmals das von ihm so benannte, den eigenen Sehnsüchten und Ängsten entstammende "Grundmotiv" seines Gesamtwerkesanschlug - den vernichtenden Einbruch der Leidenschaft in eine scheinbar befriedete Existenz. Seit dem Kleinen Herrn Friedemann, so schrieb er seinem Schulfreund Otto Grautoff am 21. Juli 1897, "vermag ich plötzlich diediskreten Formen und Masken zu finden, in denen ich mit meinen Erlebnissen unter die Leute gehen kann". In den Spuren Friedemanns gehen u.a. Gabriele Klöterjahn, Gustav von Aschenbach, Mut-em-enet und Adrian Leverkühn.

Bajazzo (Der Bajazzo): Titelfigur der Erzählung von 1897. Als typischer Dilettant bleibt der "Possenreißer" in der schwebenden Existenz des Schauspielers stecken. Der Luxus des väterlichen Erbes setzt ihn in den Stand, das ästhetische Spiel mit den Möglichkeiten bis weit über die Kindheit hinauszudehnen und sich jeder Festlegung im Wirklichen zu verweigern. Am Ende steht er haltlos außerhalb jeder Gesellschaft.

Detlev Spinell (Tristan): Eine der drei Hauptfiguren der "Burleske" von 1901. Detlev Spinell sucht als Vertreter des "Geistes" und der "Kunst" die entscheidende Auseinandersetzung mit dem "Leben", indem er Anton Klöterjahns Frau erfolgreich zum Tode verführt. Doch nicht nur seine Menschlichkeit bleibt dabei auf der Strecke; auch sein Triumph über Klöterjahn enthüllt sich als Pyrrhus-Sieg. Am Ende ergreift der dekadente und hässliche Anbeter nutzloser Schönheit die Flucht vor dem vitalen Spross der Klöterjahns und künftigen Träger der Bürgerwelt.

Anton Klöterjahn d. Ä. (Tristan): Eine der drei Hauptfiguren der "Burleske" von 1901. Anton Klöterjahn, Vaterdes parasitären Säuglings, vertritt als beinahe unappetitlich gesunder Bürger das "Leben" gegen die dekadenteÜberhöhung des Todes. Sein Gegner Detlev Spinell weiß als Mensch des Geistes und der Kunst das "höhere" Prinzip auf seiner Seite; die "Menschlichkeit" allerdings bleibt Sache des stämmigen Hanseaten.

Gabriele Klöterjahn (Tristan): Eine der drei Hauptfiguren der "Burleske" von 1901. Gabriele Klöterjahn verkörpert die "femme fragile", eines der Lieblings-Objekte der Décadence. Entsprechend leicht fällt es dem Sprechliteraten Detlev Spinell, sie zunächst zu einer ästhetischen Selbstsicht und sodann zu einem tödlichen Genuss von Wagners Tristan zu verführen - und damit einen kurzen Augenblick über "das Leben", ihren Gatten Anton Klöterjahn, zu triumphieren. Mit ihrer "Entrückung" ins Metaphysische teilt Gabriele das Schicksal aller "Heimgesuchten" im Werk Thomas Manns - von Friedemann über Aschenbach und Mut-em-enet bis zu Adrian Leverkühn. Indem sie der jahrelang unterdrückten Leidenschaft wieder Raum gibt, nimmt sie bewusst den Untergang in Kauf.

Hans Hansen (Tonio Kröger): In der Erzählung von 1902 die erste große Liebe der Titelfigur. Der blonde und blauäugige Hans Hansen steht für den Idealtypus des gesunden Bürgers. Tonio Kröger bewundert seine Vitalität undbelächelt seine Naivität. Die unerfüllbare Sehnsucht, so zu sein wie er, inspiriert den Schriftsteller zur Konzeption einer bürgerlichen und das heißt "menschlichen" Kunst. Autobiographische Quellen der zunächst nur kränkenden, schließlich auch belebenden Beziehung waren Thomas Manns homoerotische Leiden um den Schulfreund Armin Martens und den Münchner Maler Paul Ehrenberg.

Ingeborg Holm (Tonio Kröger): In der Erzählung von 1902 Tonio Krögers zweite große Liebe. Ebenso wie Hans Hansen steht auch die blonde Ingeborg für den Idealtypus des gesunden Bürgers. Allerdings gab es in ihrem Fall kein reales Vorbild.

Tonio Kröger (Tonio Kröger): Titelfigur der Erzählung von 1902. Tonio Kröger teilt Thomas Manns Sehnsucht nach den Blonden und Gewöhnlichen - und offenbart denselben Willen, diese Sehnsucht produktiv zu machen. Nachdem ihn sein südliches Erbteil zur Schriftstellerei gebracht hat, findet er seine eigenste Form der Kunst erst in der Entscheidung, sein altes Ideal der Bürgerlichkeit zu bewahren. Die stark autobiographisch geprägte Novelleblieb für Thomas Mann lebenslang ein "literarisches Lieblingskind".

Christian Jacoby (Luischen): Hauptfigur der satirischen Erzählung von 1897. Rechtsanwalt Christian Jacoby, ein "wahrer Koloss von einem Manne", lässt sich von seiner ebenso dummen wie grausamen Gattin Amra betrügen und,im Rahmen einer häuslichen Theater-Aufführung, als "Luischen" im Seidenkleid lächerlich machen. Als er seine gesellschaftlich unmögliche Lage erkennt, bricht er zusammen und stirbt. Thomas Mann orientierte sich bei der Konzeption an Turgenjews Frühlingsfluten.

Tadzio (Der Tod in Venedig): In der Novelle von 1912 der "vollkommen schöne" Knabe, dem Gustav von Aschenbach, aus gemessener Distanz, zunächst nur seine Würde und schließlich sein Leben zum Opfer bringt. BiographischesModell war ein bis heute nicht zweifelsfrei identifizierter Junge, den Thomas Mann während seines Venedig-Aufenthaltes vom 26. Mai bis 2. Juni 1911 beobachtete. In der Symbolik der Erzählung werden hinter Tadzio eine Reihe mythischer Figuren sichtbar: von Eros und Narziss über Thanatos und Dionysos bis zum Seelenführer in die Unterwelt, Hermes psychagogos.

Gustav von Aschenbach (Der Tod in Venedig): Stark autobiographisch gefärbte Hauptfigur der Novelle von 1912. Gustav von Aschenbach erleidet exemplarisch die "Rückkehr des Verdrängten". Durch jahrelange Disziplin und Leistung zu Ruhm gelangt, überlässt sich der Schriftsteller im Angesicht eines frühpubertierenden Jungen der unterdrückten Leidenschaft. Seine allmähliche Entwürdigung und Entlarvung bis hin zum Tod erlebt er selbst als einen Aufstieg zur reinen Schönheit der Ideenwelt. Auf der symbolischen Ebene unterliegt das Apollinische dem Dionysischen.

Paolo Hofmann (Der Wille zum Glück): Hauptfigur der Novelle von 1895. Paolo Hofmann verfügt bereits über dieselbe südlich-nördliche Blutsmischung, die auch Tonio Krögers "gemischtem" Namen zugrundeliegt. Doch anders alsTonio überfordert sich Paolo mit seiner schwermütigen Sehnsucht nach der gesunden Bürgerwelt. Der "Wille zum Glück" hält ihn gegen seine Natur am Leben und verzehrt zugleich ihre letzten Ressourcen. Am Morgen nach der Hochzeitsnacht stirbt er "ohne Kampf und Widerstand".

Frau und Herr Aarenhold (Wälsungenblut): In der Novelle von 1905 die Eltern des inzestuösen Geschwisterpaars.Frau Aarenhold, eines begüterten Händlers Tochter, ist klein, hässlich, früh gealtert, "wie unter einer fremden Sonne verdorrt", versehen mit Brillanten und einem schlechten Geschmack - und erfüllt so die damals kursierenden Negativ-Klischees einer Jüdin. Ihr Gatte, der sie bei Gelegenheit "unmöglich" findet, ist deutlich positiver gezeichnet: als assimilierter Selfmade-Mann, der sich durch die Erschließung eines Kohlenlagers vom "Wurm" zur sozialen Größe emporgearbeitet hat. Auch ihn jedoch verachten seine Kinder nicht nur für seine Herkunft und das "Blut, das in ihm floss", sondern auch für die "Art, in der er seinen Reichtum erworben" hat. - Von antisemitischen Darstellungsmustern ist Thomas Mann hier nicht freizusprechen.

Siegmund und Sieglind Aarenhold (Wälsungenblut): Die beiden Hauptfiguren der Novelle von 1905, ein "Doppelbild" wie das Balkon-Geschwisterpaar im Felix Krull. Jüdischer Herkunft und luxuriös aufgewachsen, stehen die überfeinerten Zwillinge wegen der bevorstehenden Heirat Sieglinds vor dem Ende ihrer bis dahin exklusiven Gemeinschaft - und schließen unwiderruflich den verletzten narzisstischen Kreis ihrer Ebenbürtigkeit dauerhaft, indemsie nach dem gemeinsamen Besuch der Walküre in den Spuren ihrer mythischen Vorgänger den Inzest vollziehen. Thomas Mann übernahm für ihre Schilderung Züge von Klaus und Katia Pringsheim, weshalb die Novelle noch vor demDruck als antisemitische Rache für seine angebliche Erniedrigung verstanden und von ihm zurückgezogen wurde. Er identifizierte sich jedoch weniger mit dem langweiligen Bräutigam als mit dem dekadenten Wagnerianer Siegmund, der als typischer Dilettant der lähmenden Wirkung des Wohlstands erliegt - eine Gefahr, die Thomas Mann für sich selbst im Glück der Ehe erkannte. Antisemitische Vorstellungen schlugen sich weit stärker in der Konzeption der Eltern Aarenhold nieder.

Baronin Anna (Ein Glück): Hauptfigur der Skizze von 1903. Baronin Anna erleidet, ebenso wie Tonio Kröger oderder hungernde Detlef, eine der Urszenen im Werk Thomas Manns: das Außenseitertum des "Geistes" im Anblick destanzenden und lachenden "Lebens". Eine besondere Eskalation ergibt sich dadurch, dass die Baronin durch einenFlirt ihres vitalen Gatten öffentlich gedemütigt wird. Da die von ihm umworbene "Schwalbe" ihr folgt und um Verzeihung bittet, bahnt sich indessen auch eine besondere Lösung an: Wie später zwischen Adrian Leverkühn und Rudolf Schwerdtfeger entpuppt sich die Sehnsucht als wechselseitig.

Angela Becker (Anekdote): Hauptfigur der Erzählung von 1908. Der Fall Angela Beckers exemplifiziert die Schopenhauersche These, dass alle Sehnsucht auf einem Irrtum beruhe. Die engelhafte Frau ist das blendende Ideal der ganzen eleganten Gesellschaft, bis ihr ewig beneideter Mann nicht mehr schweigen kann und zum allgemeinen Entsetzen das Bild seiner Ehe-Hölle entwirft: Grausam, schlaff und wahllos untreu, erwache Angela erst abends, bei künstlichem Licht zu einem "gleisnerischen Leben" - "sie wäscht sich ja nicht einmal!". Angela Becker ist damit eine Verwandte Müller-Rosés und Felix Krulls, die ganz ebenso den tiefen Wunsch der Menge nach der künstlerischen Illusion bedienen.

Johnny Bishop (Wie Jappe und Do Escobar sich prügelten): Eigentliche Hauptfigur in der Erzählung von 1910. Johnny Bishop, der noch kindliche, mädchenhaft hübsche Spross eines deutschen Kaufmannes und einer Engländerin, verdankt seiner charmanten Unabhängigkeit eine erotische Wirkung, die sich zunächst als harmlos, dann aber doch von fern als gefährlich darstellt. Der Kampf zwischen Jappe und Do Escobar befeuert und enttäuscht ihn so unverkennbar, dass der wenig ältere Erzähler schließlich sogar bereit ist, für ihn und sein Vergnügen in die Schranken zu treten.

M. Blüthenzweig (Gladius Dei): In der Erzählung von 1901 der Inhaber des Kunstladens, der die Reproduktion des lüsternen Madonnen-Bildes feilbietet. Herr Blüthenzweig entspricht den damals gängigen Klischees vom assimilierten Juden: Ausgestattet mit braunen Augen und einer platten, beständig schnüffelnden Nase über dem Vollbart, erniedrigt er händereibend und unkreativ die Kunst zur Ware. Hieronymus' Gewissen ist für ihn "eine gänzlich belanglose Einrichtung".

Daniel (Beim Propheten): In der Skizze von 1904 der Verfasser der "Proklamationen". Daniel tritt nicht selbstauf, sondern lässt sein Werk inszenieren und von einem "Jünger" verlesen. Fotografisch als junger Mann mit knochigem Raubvogel-Gesicht präsent, lässt sich jedoch auch sein Charakter als "unheimliches Gemisch von Brutalität und Schwäche" erschließen. Orientiert an dem George-Schüler Ludwig Derleth (1870-1948), schilderte Thomas Mann nach Gladius Dei und während der Arbeit an Fiorenza einen weiteren "asketischen Priester", wie er bei Nietzsche im Buche steht: einen herrschsüchtigen Décadent mit religiösem Sendungsbewusstsein. Im Doktor Faustus rückte er die Gestalt als Daniel zur Höhe in die Vorgeschichte des Faschismus ein.

Detlef (Die Hungernden): Hauptfigur der "Studie" von 1902. Ähnlich wie Tonio Kröger oder die Baronin Anna ist der junge Schriftsteller dazu verdammt, die blonde und blauäugige Frau seiner Sehnsucht auf einem Tanzfest einem ebenso naiven Mann - und sich selbst der Eifersucht und spöttischen Wehmut zu überlassen. Sein Hunger nachden "Wonnen der Gewöhnlichkeit" verleitet ihn am Ende dazu, die stille Anklage eines zerlumpten Arbeiters als Irrtum aufzufassen und dessen Elend mit dem eigenen gleichzusetzen. Thomas Mann allerdings ahnte wohl, dass hier selbst Schopenhauers Mitleid nicht alle Unterschiede aufzuheben vermochte - und schrieb in einem Brief an die Brüder Ehrenberg von einem "bis zur Trivialität unbeträchtlichen Schluss".

Der Graf (Der Tod): Ich-Erzähler der Tagebuch-Skizze von 1896. Nach Wanderungen durch die ganze Welt und einer kurzen Zeit des Liebesglücks in Lissabon hat sich der neurasthenische Graf mit seiner zwölfjährigen Tochter Asuncion in den Norden zurückgezogen, um dort zu sterben. Er ahnt das genaue Datum seines Todes voraus und gibt ihm erst dadurch den nötigen Raum - so dass sich die Ahnung als Kleid des Wunsches, als Ausdruck des erlöschenden Lebenswillens entpuppt. Seine dekadente Hoffnung auf ein Ende der Langeweile und der Alltäglichkeit wirdspürbar geringer, als der Tod einen verfrühten Besuch abstattet und sich dabei wie ein Zahnarzt benimmt. Immerhin gehorcht der Herbeigesehnte auch hier dem tieferen Willen des Grafen, indem er zunächst Asuncion mitnimmt.

Der sonderbare Herr (Enttäuschung): Gegenstand der italienischen Skizze von 1896. Rastlos, blöde lächelnd undmit Selbstgesprächen beschäftigt, fesselt er auf der Piazza San Marco tagelang die Aufmerksamkeit des kunstbegeisterten Erzählers, bevor er ihn unvermittelt anspricht und endgültig mit Reflexionen über die falschen Versprechungen der "großen Wörter" verwirrt. In der Figur des Pastorensohns brachte Thomas Mann Nietzsches Kritik an den Lügen der Dichter und an der Sprache selbst auf die Bühne - und erklärte dessen Lebenstragödie aus dem freien Fall von der Höhe literarischer Phantasie auf den Erdboden matter Wirklichkeit.

Hieronymus (Gladius Dei): wortgewaltige Hauptfigur der Erzählung von 1901. Mit Hieronymus versetzte Thomas Mann den Florentiner Dominikaner-Prior Girolamo Savonarola (1452-1498) in das Zentrum des Renaissancekults um 1900. Des Mönches religiöser Zorn gegen das schönheits- und sinnenfrohe München entzündet sich an der Reproduktion eines lüsternen Madonnen-Bildes im Schaufenster eines Kunstladens. Gottes Willen erfüllt er als fanatischer Asket und Moralist zu Geschäftszeiten - mit dem vorhersehbaren Ergebnis seines Rausschmisses. Gladius Dei war von Anfang an als "psychologische Vorstudie" zu Fiorenza geplant. Als Inkarnation von Nietzsches "asketischemPriester" hat Hieronymus eine Fülle weiterer Verwandter im Werk: von Dr. Überbein und Cipolla über Naphta und Krokowski bis hin zu Beknechons und Chaim Breisacher.

Lisaweta Iwanowna (Tonio Kröger): In der Erzählung von 1902 Tonio Krögers intellektuell überlegene Freundin, die ihn nach seiner ausführlichen Darstellung des Problems von Kunst und Künstlertum mit der Lösung, er sei ganz einfach ein verirrter Bürger, "erledigt" und ergo erlöst. Die Malerin mit dem slawischen, "unendlich sympathischen" Gesicht verteidigt das Ideal der Literatur als Weg zum Verstehen und das Ideal des Literaten als Heiligen. In ihrer Veranschaulichung russischer "Menschlichkeit" ist sie eine direkte Vorgängerin Clawdia Chauchats. Gleichnamige Frauengestalten finden sich in mehreren Werken der russischen Literatur - so etwa in PuschkinsPique Dame, Gontscharows Eine alltägliche Geschichte und Dostojewskis Schuld und Sühne.

Francois Knaak (Tonio Kröger, Wie Jappe und Do Escobar sich prügelten, Königliche Hoheit): Ballettmeister in den Erzählungen von 1902 und 1910 sowie in dem Roman von 1909. Kleiner Leute Kind, wird er von der Gesellschaft als Hüter und Lehrmeister des Sittenideals bezahlt. Da er es zudem seiner Rolle gemäß an Männlichkeit fehlenlässt, ist seine Stellung im Leben höchst unsicher. Als Komödiant und "Affe" - nach dem Urteil Tonio Krögers - erreicht er sogar die Nähe der abenteuernden, im Bürgerlichen nur hospitierenden Künstler.

Tobias Mindernickel (Tobias Mindernickel): Titelfigur der Erzählung von 1897. Tobias Mindernickel ist bereitseiner jener Sonderlinge, die im Doktor Faustus die neurotische "Unterteuftheit" einer Stadt sichtbar machen. Sozial deklassiert und stets gehetzt von einem Schwarm höhnender Kinder, entdeckt der unglückliche Mindernickel das Mitleid als letztverbliebene Erscheinungsform der Macht. Er rächt sich am Leben selbst, indem er ein vitales Hündchen kauft, kommandiert und, nachdem es versehentlich in sein Messer gerannt ist, auch pflegt. Als das Hündchen gesundet und die Enklave der Leidensgemeinschaft verlässt, nimmt Tobias das Messer, um den früherenZustand wiederherzustellen, und verletzt das Tier tödlich. Thomas Mann exemplifizierte mit Tobias Mindernickel den "Menschen des Ressentiment" aus Nietzsches Genealogie der Moral.

Lobgott Piepsam (Der Weg zum Friedhof): Hauptfigur der "Groteske" von 1900. Lobgott Piepsam, ein Säufer aus leicht nachvollziehbaren Gründen, verwitwet und von aller Welt verlassen, sucht auf dem Weg zum Friedhof Streitmit dem "Leben"- in Gestalt eines blonden, blauäugigen und sehr selbstbewussten Radfahrers. Schnell unterlegen, steigert er sich in einen geradezu biblischen Zorn und bricht schließlich zusammen. Duelle mit dem personifizierten Leben haben außer ihm auch Tobias Mindernickel, die Buddenbrook-Kinder oder Detlev Spinell auszufechten.

Albrecht van der Qualen (Der Kleiderschrank): Hauptfigur der "Geschichte voller Rätsel" von 1898. Ohnehin "haltlos" und der Auffassung, alles müsse in der Luft stehen, erwacht der todkranke van der Qualen während eines Haltes auf der Zugfahrt von Berlin nach Florenz, steigt schlaftrunken aus und überschreitet mit dem namenlosenFluss einer unbekannten Stadt die Grenzen zur Unterwelt. Zusätzlich der Tabak- und Alkoholgenuss befähigen ihn, im Kleiderschrank des angemieteten Zimmers eine nackte, kindliche Frau zu sehen, die ihm von nun an, solange er nicht die Hände nach ihr ausstreckt, Geschichten mit idyllischen Anfängen und grausigen Schlüssen erzählt. Allerdings ist am Ende nicht einmal sicher, ob er den Zug überhaupt jemals verlassen hat. Van der Qualen istThomas Manns erste Gestaltung eines Schriftstellers; die geheimnisvolle Erscheinung hat literarische Vorbilder in der jungen Frau aus Dostojewskis Wirtin von 1847 und in der geisterhaften Donna Anna in E.T.A. Hoffmanns Don Juan. Die zeit- und raumlose Unterwelt schließlich öffnet sich als eigentlich Schopenhauersche Willensweltnach den Gesetzen der Somnambulie.

Gerda von Rinnlingen (Der kleine Herr Friedemann): Zweite Hauptfigur der Erzählung von 1897, unkonventionelleGattin des neuen Oberleutnants in der Bezirkskommandantur und "femme fatale", die ihre tiefere Kraft gerade aus der Fragilität bezieht. Gerda von Rinnlingen ist eine frühe Gestaltung des Décadents mit dem Willen zur Selbstüberwindung. Sinnlich, nervös und krank, inszeniert sie sich als herrische Jägerin - und versteht den kleinen Herrn Friedemann zu gut, um auch noch Mitleid mit ihm zu haben. Indem sie ihn zum Eingeständnis seiner vitalen Schwäche verführt, löst sie den Zusammensturz seines Lebens-Kunstbaus aus. Dass sie hübsch ist und berauscht, zugleich aber weibliche Anmut vermissen lässt, enthüllt andeutungsweise die homoerotische Natur seiner lange unterdrückten Leidenschaft und damit das eigentliche Thema des Autors.

Bibi Saccellaphylaccas (Das Wunderkind): Hauptfigur der Skizze von 1903. Bibi ist ein typischer Künstler, wieNietzsche ihn am Beispiel Wagners immer wieder kritisiert hat: kindlich und verschlagen, einsam und wirkungssüchtig, ein hochbegabter Komödiant. Seinen wahrhaftigsten Ausdruck findet Bibi zudem mit der harmonischen Verschiebung nach Cis, bei deren Gelegenheit er, damit die ahnungslosen Laien wenigstens etwas zu sehen haben, einen hübschen Augenaufschlag vollzieht - womit er nicht nur ein typisch Wagnerisches Kunstmittel verwendet, sondern auch über dessen "doppelte Optik" für die Kenner und zugleich die breite Masse verfügt. Reales Vorbild warder achtjährige griechische Pianist und spätere Konservatoriumslehrer Loris Margaritis (1895-1953), dessen Münchner Konzert Thomas Mann im Sommer 1903 besucht hatte.

Friedrich Schiller (Schwere Stunde): In der Studie von 1905 ein "Held der Schwäche", wie Thomas Mann ihn schon in Thomas Buddenbrook oder später in Gustav von Aschenbach schilderte: Krank und überreizt, verzweifelt Schiller nächtens am Wallenstein, an seinem Talent, an seinem Ehrgeiz. Zusätzlich der Vergleich mit Goethes Naivität entmutigt den Sentimentaliker, stachelt ihn dann jedoch zu einer weiteren Selbstüberwindung; aus dem sehnsüchtigen Leiden als dem Garanten seiner Kreativität wird erneut die apollinische Form. Thomas Mann schmolz eine Fülle von Schiller-Zitaten ein, porträtierte aber zugleich sich selbst - den vom jungen Ehe-Glück letztlich unkorrumpierten Moralisten der Leistung.

Doktor Selten (Gefallen): Hauptfigur in Thomas Manns erster Novelle von 1894. Selten steht als welterfahrener Ironiker im scheinbaren Kontrast zu dem blutjungen Idealisten Laube, der sich mit übernommenen Redensarten für die Emanzipation der Frau einsetzt. In seiner Erzählung entpuppt sich Selten jedoch selbst als ursprünglich naiver Held, der eine Schauspielerin durch seine romantische Liebe in die Arme der Prostitution trieb. Dass er unschuldig schuldig wurde und gemäß "Moral" nur den Auslöser für den früher oder später unvermeidbaren Fall der Angebeteten lieferte, unterfüttert Laubes Engagement mit dem nötigen Realismus - und lässt umgekehrt Seltens genießerischen Zynismus als bloße Maske des ewigen Sentimentalikers zurück. Der Frau allerdings ist offenbar nicht zu helfen.

Dunja Stegemann (Gerächt): Zweite Hauptfigur in der "novellistischen Studie" von 1899. Ohne weibliche Reize und intellektuell unbefangen, stillt sie das verlogene Bedürfnis des gimpelhaften Ich-Erzählers nach der rein geistigen Kameradschaft mit einer Frau. Als er ihr, um "gleichsam ein Fenster aufzustoßen", seine körperliche Abneigung ausdrückt, pariert sie mit dem Geständnis eines kürzlichen Liebesverhältnisses - was nun doch die "lasterhaften Instinkte" des Erzählers aufrührt und ihm einen Korb einträgt. Die Rolle der überlegenen Freundin übernimmt nur wenig später Lisaweta Iwanowna im Tonio Kröger.

Späte Erzählungen

Bauschan (Herr und Hund): Eine der beiden Hauptfiguren im "Idyll" von 1918. Bauschan verfügt als Hunde-Mischling - anders als der geisteskranke Percy in Königliche Hoheit - über gesunde Instinkte. Seine krisenfeste Schlichtheit macht ihn ebenso zu einem vitalen Bürger, wie sich umgekehrt die vitalen Bürger im Werk Thomas Manns häufig dem Animalischen nähern.

Moses: In der Erzählung von 1943 eine Künstler-Figur, der sich auf dem Wege der Regionsstiftung und der Erfindung neuer Schriftzeichen zum "Schöpfer" eines ganzen Volkes entwickelt. Zugleich führt Moses die Geburt der Ordnung aus dem Geiste der Unordentlichkeit vor - der zweifelhaften Geburt, der Neigung zur Gewalttätigkeit undder Sinnlichkeit. Thomas Mann orientierte sich bei der charakterlichen Zeichnung des "Volksbildners" am Homoerotiker Michelangelo.

Gregor (Gregorius): Die Hauptfigur des Romans von 1951, der legendenumwobene Held, den Gott nicht trotz, sondern wegen seiner Sünden zum Statthalter Christi erhebt. Gregor ist wie alle "Aufsteiger" im Werk Thomas Manns schön und redegewandt, dazu mit Liebe zu sich selbst begabt. Als Findling und Ausgestoßener lädt er unwissentlich die Schuld des Inzests auf sich, um nach langer Buße, verkümmert auf dem milchgebenden Stein, in Rom einzuziehen. Thomas Mann erzählte den Stoff aus den Gesta Romanorum mit Blick auf eine kompositorische Bearbeitung Adrian Leverkühns bereits im Doktor Faustus nach

Anna von Tümmler (Die Betrogene): In Thomas Manns letzter Erzählung (von 1953) die Tochter der Hauptfigur. Im Gegensatz zur naiven Rosalie ist Anna von Tümmler - im Sinne Schillers - ein typisch "sentimentalischer" unddamit moderner Charakter. Durch ihren Klumpfuß von der Natur benachteiligt und zur geistigen Hochleistung getrieben, erscheint Anna als eine radikale Außenseiterin in der Tradition der asketischen Ästheten - von Friedemann über Aschenbach bis zu Adrian Leverkühn.

Rosalie von Tümmler (Die Betrogene): Hauptfigur von Thomas Manns letzter Erzählung (abgeschlossen 1953). Rosalie von Tümmler ist, ebenso wie Mut-em-enet oder Ines Rodde, eine weibliche Maske Thomas Manns, in deren Schutze er noch einmal die "glücklichste Leidenschaft" seines Lebens reflektierte. Als naives Kind der Natur erfüllt sie in der Beziehung zu ihrer sentimentalischen Tochter zugleich die Rolle Goethes gegenüber Schiller - undist somit Teil des Thomas Mannschen Nachfolge-Spiels. Ihrem eigenen Erleben nach ist sie am Ende nicht betrogen, sondern ähnlich wie Aschenbach versöhnt und mythisch hinübergetragen zu den Gefilden der Seligen.

Ken Keaton (Die Betrogene): In Thomas Manns letzter Erzählung (von 1953) der Geliebte Rosalie von Tümmlers. Ken Keaton ist ein amerikanischer Nachfahr Hans Hansens, Felix Krulls, Josephs oder Rudolf Schwerdtfegers - also der naiven Objekte melancholischer Leidenschaft. Biographisches Muster ist in diesem Fall Klaus Heuser, der Thomas Mann nach dem ersten Kennenlernen auf Sylt 1927 und dem mehrmaligen Wiedersehen in Düsseldorf das Selbstbewusstsein eines "glücklichen" und "belohnten Fünfzigers" schenkte (vgl. den Tagebucheintrag vom 14.9.1935).Entsprechend ist Rosalie von Tümmler, auch dank ihrer eigenen Naivität, am Ende nicht nur betrogen, sondern zugleich versöhnt.

Luther (Luthers Hochzeit): In Thomas Manns letztem und unausgeführtem Werkplan eine Figur, die als Brücke zwischen den Epochen zugleich in die Neuzeit und zurück ins Mittelalter führt. Anders als bei Erasmus wirkt in Luther noch das Dämonische - zugleich ist ohne seine sprachliche und geistige Kulturleistung Deutschland nicht vorstellbar. Durchgehende Züge in Thomas Manns Lutherbild waren die religiöse Getriebenheit und volkstümliche Urkraft des Reformators, seine Streitsucht und revolutionäre Subjektivität, sein Dogmatismus und Antisemitismus, seine Musikalität und zarte Beseeltheit. - Was Thomas Mann anzog, war wie so oft die reiche Gegensätzlichkeit des geschichtsmächtigen Charakters.

Cipolla (Mario und der Zauberer): Einer der beiden Titelhelden in der Erzählung von 1929. Die dämonische Figur des italienischen Cavalière ist - auf der Linie Savonarolas oder des Gitarristen im Tod in Venedig - eine erste Übersetzung des an Wagner geschulten Künstlerbildes in die Sphäre des aktuell Politischen. Als kranker Décadent stellt der bucklige Cipolla seine Existenz ausschließlich auf seine Willenskraft und unterwirft ihr unter den Voraussetzungen der Schopenhauerschen Metaphysik das gesamte Volk. Seine faschistisch eingefärbte Diktatur zerbricht, als er seiner unterdrückten Homoerotik die Zügel schießen lässt - und der entwürdigte Mario sich in der republikanischen Tradition des Gaius Marius mit zwei tödlichen Schüssen rächt. Vom Hypnotiseur bleibt nach der Verflüchtigung seines raumgreifenden Willens wenig mehr als ein durcheinander geworfenes Bündel Kleider und schiefer Knochen. Die psychologischen Parallelen zwischen künstlerischem und politischem Wirkungshunger verfolgte Thomas Mann vor allem im Bruder Hitler und im Doktor Faustus weiter.

Abel Cornelius (Unordnung und frühes Leid): aupt- und Perspektivfigur der "Inflationsgeschichte" von 1925. Abel Cornelius, Professor der Geschichte und von seinen ältesten Kindern als "guter Vorfahr" angesprochen, liebt das Geschehene, nicht das Geschehende. Sein ambivalentes Verhältnis zu den "Frechheiten der Gegenwart" offenbart sich zwar in einer fast erotischen Neugier auf die "Unordnung" in seinem Haus - eine Party seiner ältesten Kinder. Doch nachdem sich sogar das fünfjährige Lorchen, in seinen zärtlichen Vateraugen der Zeit entzogen, durch einen ersten Anflug unglücklicher Liebe in das Leben verwickelt hat, wird ihm erst wieder wohl, als das Glück des kindlichen Schlafes die kurze Verstörung wieder vergessen macht. Thomas Mann spiegelte in dem "Villenproletarier" seine eigene, in den Betrachtungen und im Zauberberg mit teils tödlichem Ernst entwickelte konservative Opposition gegenüber der Politik aus eher humoristischer und damit versöhnlicher Perspektive.

"Beißer" Cornelius (Unordnung und frühes Leid): In der Erzählung von 1925 der jüngste Sohn von Abel Cornelius. Beißers "schwierige Männlichkeit" fällt dem Professor sichtlich auf die Nerven: Äußerlich nach ihm geschlagen, labil und jähzornig, böse und voller Neigung zur moralisch-religiösen Zerknirschung, muss der sparsam begabte Junge mit den mütterlichen Tröstungen vorlieb nehmen. Hinter "Beißer" steht der kindliche Michael Mann (1919-1977) - der zeitlebens unter der väterlichen Abneigung litt und sich während der editorischen Arbeit an Thomas Manns Tagebüchern aus den Jahren 1918-1921 das Leben nahm.

Bert Cornelius (Unordnung und frühes Leid): In der Erzählung von 1925 Sohn und zweitältestes Kind von Abel Cornelius. Blond, siebzehnjährig und voll komödiantischen Übermuts, will Bert auf keinen Fall seine Schule beenden, sondern sich stattdessen möglichst bald als Tänzer, Kabarett-Rezitator oder Kellner ins Leben werfen. SeinVorbild ist der revolutionäre Schauspieler Herzl - immerhin hofft Cornelius, dass in seinem "armen Bert", dernichts weiß und nichts kann, vielleicht wenigstens ein Dichter steckt. Thomas Mann reflektierte hier offenkundig sein Verhältnis zu seinem ältesten Sohn Klaus Mann (1906-1949), der seinen Platz im Leben auch als Schriftsteller nicht fand.

Eleonore ("Lorchen"): Cornelius (Unordnung und frühes Leid): In der Erzählung von 1925 die jüngste Tochter und Lieblingskind von Abel Cornelius. Lorchen macht in seinen Augen alles besser als "Beißer": Putzig gebildet und kunstverständig, ist ihr ausgeglichener Liebreiz ein Ruhe- und Fluchtpunkt seiner Opposition gegen die Umwälzungen der Gegenwart. Dass auch sie nicht dem Ewigen, sondern dem Zeitlichen angehört, zeigt ihre allzu frühe Empfänglichkeit gegenüber den männlichen Reizen eines an sich ungefährlichen Studenten der Ingenieurswissenschaften. Lorchen ist ein dichterisch überhöhtes Porträt Elisabeth Manns, der jüngsten Tochter Thomas Manns (1918-2003).

Frau Cornelius (Unordnung und frühes Leid): In der Erzählung von 1925 die Ehefrau von Abel Cornelius. Sie tritt, ohne Vornamen, vor allem als "Hausfrau" in Erscheinung, die, mürbe und matt von den verrückten Schwierigkeiten der Wirtschaft, das Alltägliche des Lebens organisiert und dem zu kurz gekommenen "Beißer" die nötige Liebe gibt. Sie ist damit ein immerhin schwacher Reflex Katia Manns (1883-1980).

Ingrid Cornelius (Unordnung und frühes Leid): In der Erzählung von 1925 das älteste Kind von Abel Cornelius. Anders als ihr Bruder Bert will die achtzehnjährige Ingrid ihr Abitur ablegen - allerdings nur, weil sie auf die Wirkung ihrer weiblichen Reize in der Lehrerschaft vertrauen darf. Im Übrigen drängt es auch sie, versehen mit einer wohltuenden Stimme und einem amüsanten parodistischen Talent, zum Theater. - Thomas Mann skizzierte hier mit wenigen Strichen seine Tochter Erika Mann (1905-1969), die später vor allem als Kabarettistin reüssierte.

Max Hergesell (Unordnung und frühes Leid): In der Erzählung von 1925 das hohe Ziel von "Lorchens" verfrühtem weiblichen Ehrgeiz. Max Hergesell, gedehnt und näselnd sprechender Student der Ingenieurswissenschaften, tanzt auf der Hausparty der großen Cornelius-Kinder mit der Fünfjährigen - und denkt sich nichts weiter dabei, als vor allem den Hausherrn zu bestechen. Um Lorchens Liebesschmerz zu stillen, kommt Hergesell noch als "Glückbringer, Märchenprinz und Schwanenritter" an ihr Bett, berechnet seine Wohltaten aber wiederum so deutlich auf den anwesenden Cornelius, dass der kaum das Ende dieses "dämlichen" Clownsbesuches erwarten kann.

Iwan Herzl (Unordnung und frühes Leid): In der Erzählung von 1925 der gefeierte jugendliche Liebhaber des Staatstheaters, Freund von Bert und Ingrid. Als revolutionärer und zugleich schwermütiger Schauspieler schminkt sich Herzl auch privat. Seinen damit erhobenen Anspruch auf eine Sonderrolle kompensiert er mit einem fast unterwürfigen Respekt gegenüber dem Hausherrn und seinen kleinen Kindern. Noch seine echten Gefühle jedoch äußert er unter den gewohnten Wirkungsbedingungen des Theaters - so dass Berts Ehrgeiz, sich so zu bewegen wie er, eher nicht in das ersehnte Leben führt.

Kamadamana (Die vertauschten Köpfe): Tragikomischer Asket in der "indischen Legende" von 1940, den die drei Hauptfiguren in dem von Heiligen fast übervölkerten Dankakawald aufsuchen, um ihn zum Richter über ihr weiteresSchicksal einzusetzen. Der "Besieger der Wünsche" erweist sich jedoch als noch tiefer ins Leben und seine Widersprüche verstrickt als sie selbst - so dass seine berauschte Heiligkeit im Anblick Sitas, der Furche, auch keine dauerhafte Lösung anzubahnen vermag. Kamadamana ist die Inkarnation des ins "Leben" vernarrten "Geistes",der ganz im Sinne Nietzsches die asketischen Ideale hegt, weil er sie bitter nötig hat. In der Einsiedler-Gesellschaft, die keine sein will, parodierte Thomas Mann zugleich die schwierige Gesellschaft der Künstler und Schriftsteller - die seiner Einsicht nach mit ebensolchem Ingrimm die eifersüchtige Illusion hegten, ganz allein zu sein.

Mario (Mario und der Zauberer): Einer der beiden Titelhelden in der Novelle von 1929. Der zwanzigjährige Kellner in einem Strandcafé ist ein durchschnittlicher Vertreter der Bevölkerung von Torre die Venere - mit dem einzigen Unterschied, dass ihn seine angeborene Schwermut die unglückliche Liebe zu einer vermutlich ebenso durchschnittlichen Silvestra auffallend tragisch nehmen lässt. Nachdem ihm der diktatorische Hypnotiseur Cipolla "als" Silvestra auf offener Bühne einen Kuss geraubt hat, erschießt er den Dämon und wird so im politischen Gleichnis zum Freiheitshelden.

Nanda und Schridaman (Die vertauschten Köpfe): Zwei der drei tragikomischen Hauptfiguren in der "indischen Legende" von 1940. Schridaman, ein Kaufmann und eines Kaufmanns Sohn an der Dorfstätte "Wohlfahrt der Kühe", istausgestattet mit einem gebildeten, den Sinn für das Schöne bergenden Kopf - und darum mit dem Schmied und Kuhhirten Nanda befreundet, der seinerseits über einen bemerkenswerten Körper verfügt und sich nach einem edlen und wissenden Haupt sehnt. Nachdem Schridaman bemerkt, dass seine Frau Sita in seinen Armen von Nandas Leiblichkeit träumt, enthauptet er sich an einem Heiligtum Kalis; Nanda folgt seinem Beispiel. Ihre wechselseitige Sehnsucht wird scheinbar dadurch erfüllt, dass Sita, von Kali schlecht instruiert, die Köpfe beim Wiederbefestigen an den Leibern nach tieferem Willen verwechselt - und beide nun an sich selbst haben, was sie am anderen bewunderten. Da ihre Köpfe sich jedoch schon bald ihre neuen Körper modellieren, selbst einer Veränderung durch das leiblich Übernommene unterliegen und folglich nichts Halbes und nichts Ganzes werden, was auch Sita so sieht, verabreden sie die doppelseitige Selbsttötung und die dreifache Ein- und Wiederverschmelzung in der Feuerhütte. Thomas Mann variierte hier nach dem Vorbild einer "Anekdote"aus Heinrich Zimmers Die indische Weltmutter ein weiteres Mal den erotischen Gegensatz von Geist und Natur, wie er ihn auch in Tonio Kröger und Hans Hansenoder in Aschenbach und Tadzio gestaltet hatte - doch ebenso, wie später zwischen Adrian Leverkühn und Schwerdtfeger, als wechselseitige Sehnsucht.

Percy (Herr und Hund, Königliche Hoheit): Der Vorgänger Bauschans, dann Hund von Imma Spoelmann, der Braut Klaus Heinrichs. Der Collie Percy - in Herr und Hund ein schottischer Schäferhund - ist die Parodie eines degenerierten, hochnervösen Adeligen. Dass Imma so an ihm hängt, obwohl ein "Kundiger" ihn schlicht für geisteskrank erklärt hat, kündigt frühzeitig ihre Empfänglichkeit für die Fürsten-Familie an.

Samadhi (Die vertauschten Köpfe): In der "indischen Legende" von 1940 das Leibesfrüchtchen Sitas und Schridamans, das bei aller Ähnlichkeit mit der schönen Mutter die Vorzüge Schridamans und Nandas in sich vereint. Hellhäutig und in hohem Grade kurzsichtig, entwickelt sich Samadhie ("Die Sammlung") zum Andhaka, das ist "Blindling", dem es nach dem Tod seiner drei Eltern vortrefflich geht auf Erden - da er davor bewahrt ist, allzu sehr in seinem wohlgeratenen Körper zu leben, und darum bereits mit zwanzig Jahren Vorleser des Königs von Benares wird.

Sita (Die vertauschten Köpfe): Eine der drei tragikomischen Hauptfiguren in der "indischen Legende" von 1940.Sita, "die Furche" und ringsum Schöngliedrige, ist trotz der hohen Beigeisterung des Schridaman nach Kalis Einschätzung eine dumme Ziege und Pute: die sich, vermöge ihres Mannes vom schnippischen Mädchen zum Weibe gemacht, sofort zur Liebeslust auf Nanda erwecken lässt und damit eine erste Katastrophe heraufbeschwört. Zudem führt ihre nur halb versehentliche Vertauschung der Köpfe zur endgültigen Rückkehr des Dreigespanns in den Mutterschoß der grausigen Göttin. Immerhin hat Sita trotz aller weiblichen Schwäche und Wirrnis des Fleisches darin ihren Stolz und ihre Ehre als höheres Wesen, dass sie die Vielmännerei von sich weist und stattdessen den Liebestod der Einschmelzung wählt.

Fiorenza

Savonarola: Eine der beiden Hauptfiguren des Dramas von 1906. Thomas Mann macht den 1498 in Florenz hingerichteten Dominikaner-Prior von S. Marco zu einem enttäuschten rhetorischen Genie, das sich für die Abweisung seiner Liebe mit der Unterwerfung einer ganzen Stadt rächt. Als radikaler Vertreter des Geistes tritt Savonarola -ebenso wie in Gladius Dei als Hieronymus - nicht nur gegen "das Leben", sondern zugleich auch gegen die Kunst an. In Savonarolas Konflikt mit Lorenzo spiegelte Thomas Mann, in zuweilen unscharfer Rollenverteilung, die eigene Auseinandersetzung mit seinem Bruder Heinrich.

Lorenzo de´ Medici (Fiorenza): In dem Drama von 1906 Kontrahent des radikalen Geistesmenschen Savonarola. Als Mäzen vertritt Lorenzo zugleich die Sache des Lebens und der Kunst. Auf dem Sterbebett bezeichnet er den unversöhnlichen Prior als feindlichen Bruder im Geiste - und reicht damit, stellvertretend für Thomas Mann, dem feindlichen Bruder Heinrich die Hand. In den Betrachtungen eines Unpolitischen, der ebenso hintergründigen wie maßlosen Auseinandersetzung mit dem Bruder, griff Thomas Mann wiederholt auf diese Szene und ihre Voraussetzungen zurück.