Frühe Erzählungen
Johannes Friedemann (Der kleine Herr Friedemann): Titelfigur der Erzählung von 1897, in der Thomas Mann erstmals das von ihm so benannte, den eigenen Sehnsüchten und Ängsten entstammende "Grundmotiv" seines Gesamtwerkesanschlug - den vernichtenden Einbruch der Leidenschaft in eine scheinbar befriedete Existenz. Seit dem Kleinen Herrn Friedemann, so schrieb er seinem Schulfreund Otto Grautoff am 21. Juli 1897, "vermag ich plötzlich diediskreten Formen und Masken zu finden, in denen ich mit meinen Erlebnissen unter die Leute gehen kann". In den Spuren Friedemanns gehen u.a. Gabriele Klöterjahn, Gustav von Aschenbach, Mut-em-enet und Adrian Leverkühn.
Bajazzo (Der Bajazzo): Titelfigur der Erzählung von 1897. Als typischer Dilettant bleibt der "Possenreißer" in der schwebenden Existenz des Schauspielers stecken. Der Luxus des väterlichen Erbes setzt ihn in den Stand, das ästhetische Spiel mit den Möglichkeiten bis weit über die Kindheit hinauszudehnen und sich jeder Festlegung im Wirklichen zu verweigern. Am Ende steht er haltlos außerhalb jeder Gesellschaft.
Detlev Spinell (Tristan): Eine der drei Hauptfiguren der "Burleske" von 1901. Detlev Spinell sucht als Vertreter des "Geistes" und der "Kunst" die entscheidende Auseinandersetzung mit dem "Leben", indem er Anton Klöterjahns Frau erfolgreich zum Tode verführt. Doch nicht nur seine Menschlichkeit bleibt dabei auf der Strecke; auch sein Triumph über Klöterjahn enthüllt sich als Pyrrhus-Sieg. Am Ende ergreift der dekadente und hässliche Anbeter nutzloser Schönheit die Flucht vor dem vitalen Spross der Klöterjahns und künftigen Träger der Bürgerwelt.
Anton Klöterjahn d. Ä. (Tristan): Eine der drei Hauptfiguren der "Burleske" von 1901. Anton Klöterjahn, Vaterdes parasitären Säuglings, vertritt als beinahe unappetitlich gesunder Bürger das "Leben" gegen die dekadenteÜberhöhung des Todes. Sein Gegner Detlev Spinell weiß als Mensch des Geistes und der Kunst das "höhere" Prinzip auf seiner Seite; die "Menschlichkeit" allerdings bleibt Sache des stämmigen Hanseaten.
Gabriele Klöterjahn (Tristan): Eine der drei Hauptfiguren der "Burleske" von 1901. Gabriele Klöterjahn verkörpert die "femme fragile", eines der Lieblings-Objekte der Décadence. Entsprechend leicht fällt es dem Sprechliteraten Detlev Spinell, sie zunächst zu einer ästhetischen Selbstsicht und sodann zu einem tödlichen Genuss von Wagners Tristan zu verführen - und damit einen kurzen Augenblick über "das Leben", ihren Gatten Anton Klöterjahn, zu triumphieren. Mit ihrer "Entrückung" ins Metaphysische teilt Gabriele das Schicksal aller "Heimgesuchten" im Werk Thomas Manns - von Friedemann über Aschenbach und Mut-em-enet bis zu Adrian Leverkühn. Indem sie der jahrelang unterdrückten Leidenschaft wieder Raum gibt, nimmt sie bewusst den Untergang in Kauf.
Hans Hansen (Tonio Kröger): In der Erzählung von 1902 die erste große Liebe der Titelfigur. Der blonde und blauäugige Hans Hansen steht für den Idealtypus des gesunden Bürgers. Tonio Kröger bewundert seine Vitalität undbelächelt seine Naivität. Die unerfüllbare Sehnsucht, so zu sein wie er, inspiriert den Schriftsteller zur Konzeption einer bürgerlichen und das heißt "menschlichen" Kunst. Autobiographische Quellen der zunächst nur kränkenden, schließlich auch belebenden Beziehung waren Thomas Manns homoerotische Leiden um den Schulfreund Armin Martens und den Münchner Maler Paul Ehrenberg.
Ingeborg Holm (Tonio Kröger): In der Erzählung von 1902 Tonio Krögers zweite große Liebe. Ebenso wie Hans Hansen steht auch die blonde Ingeborg für den Idealtypus des gesunden Bürgers. Allerdings gab es in ihrem Fall kein reales Vorbild.
Tonio Kröger (Tonio Kröger): Titelfigur der Erzählung von 1902. Tonio Kröger teilt Thomas Manns Sehnsucht nach den Blonden und Gewöhnlichen - und offenbart denselben Willen, diese Sehnsucht produktiv zu machen. Nachdem ihn sein südliches Erbteil zur Schriftstellerei gebracht hat, findet er seine eigenste Form der Kunst erst in der Entscheidung, sein altes Ideal der Bürgerlichkeit zu bewahren. Die stark autobiographisch geprägte Novelleblieb für Thomas Mann lebenslang ein "literarisches Lieblingskind".
Christian Jacoby (Luischen): Hauptfigur der satirischen Erzählung von 1897. Rechtsanwalt Christian Jacoby, ein "wahrer Koloss von einem Manne", lässt sich von seiner ebenso dummen wie grausamen Gattin Amra betrügen und,im Rahmen einer häuslichen Theater-Aufführung, als "Luischen" im Seidenkleid lächerlich machen. Als er seine gesellschaftlich unmögliche Lage erkennt, bricht er zusammen und stirbt. Thomas Mann orientierte sich bei der Konzeption an Turgenjews Frühlingsfluten.
Tadzio (Der Tod in Venedig): In der Novelle von 1912 der "vollkommen schöne" Knabe, dem Gustav von Aschenbach, aus gemessener Distanz, zunächst nur seine Würde und schließlich sein Leben zum Opfer bringt. BiographischesModell war ein bis heute nicht zweifelsfrei identifizierter Junge, den Thomas Mann während seines Venedig-Aufenthaltes vom 26. Mai bis 2. Juni 1911 beobachtete. In der Symbolik der Erzählung werden hinter Tadzio eine Reihe mythischer Figuren sichtbar: von Eros und Narziss über Thanatos und Dionysos bis zum Seelenführer in die Unterwelt, Hermes psychagogos.
Gustav von Aschenbach (Der Tod in Venedig): Stark autobiographisch gefärbte Hauptfigur der Novelle von 1912. Gustav von Aschenbach erleidet exemplarisch die "Rückkehr des Verdrängten". Durch jahrelange Disziplin und Leistung zu Ruhm gelangt, überlässt sich der Schriftsteller im Angesicht eines frühpubertierenden Jungen der unterdrückten Leidenschaft. Seine allmähliche Entwürdigung und Entlarvung bis hin zum Tod erlebt er selbst als einen Aufstieg zur reinen Schönheit der Ideenwelt. Auf der symbolischen Ebene unterliegt das Apollinische dem Dionysischen.
Paolo Hofmann (Der Wille zum Glück): Hauptfigur der Novelle von 1895. Paolo Hofmann verfügt bereits über dieselbe südlich-nördliche Blutsmischung, die auch Tonio Krögers "gemischtem" Namen zugrundeliegt. Doch anders alsTonio überfordert sich Paolo mit seiner schwermütigen Sehnsucht nach der gesunden Bürgerwelt. Der "Wille zum Glück" hält ihn gegen seine Natur am Leben und verzehrt zugleich ihre letzten Ressourcen. Am Morgen nach der Hochzeitsnacht stirbt er "ohne Kampf und Widerstand".
Frau und Herr Aarenhold (Wälsungenblut): In der Novelle von 1905 die Eltern des inzestuösen Geschwisterpaars.Frau Aarenhold, eines begüterten Händlers Tochter, ist klein, hässlich, früh gealtert, "wie unter einer fremden Sonne verdorrt", versehen mit Brillanten und einem schlechten Geschmack - und erfüllt so die damals kursierenden Negativ-Klischees einer Jüdin. Ihr Gatte, der sie bei Gelegenheit "unmöglich" findet, ist deutlich positiver gezeichnet: als assimilierter Selfmade-Mann, der sich durch die Erschließung eines Kohlenlagers vom "Wurm" zur sozialen Größe emporgearbeitet hat. Auch ihn jedoch verachten seine Kinder nicht nur für seine Herkunft und das "Blut, das in ihm floss", sondern auch für die "Art, in der er seinen Reichtum erworben" hat. - Von antisemitischen Darstellungsmustern ist Thomas Mann hier nicht freizusprechen.
Siegmund und Sieglind Aarenhold (Wälsungenblut): Die beiden Hauptfiguren der Novelle von 1905, ein "Doppelbild" wie das Balkon-Geschwisterpaar im Felix Krull. Jüdischer Herkunft und luxuriös aufgewachsen, stehen die überfeinerten Zwillinge wegen der bevorstehenden Heirat Sieglinds vor dem Ende ihrer bis dahin exklusiven Gemeinschaft - und schließen unwiderruflich den verletzten narzisstischen Kreis ihrer Ebenbürtigkeit dauerhaft, indemsie nach dem gemeinsamen Besuch der Walküre in den Spuren ihrer mythischen Vorgänger den Inzest vollziehen. Thomas Mann übernahm für ihre Schilderung Züge von Klaus und Katia Pringsheim, weshalb die Novelle noch vor demDruck als antisemitische Rache für seine angebliche Erniedrigung verstanden und von ihm zurückgezogen wurde. Er identifizierte sich jedoch weniger mit dem langweiligen Bräutigam als mit dem dekadenten Wagnerianer Siegmund, der als typischer Dilettant der lähmenden Wirkung des Wohlstands erliegt - eine Gefahr, die Thomas Mann für sich selbst im Glück der Ehe erkannte. Antisemitische Vorstellungen schlugen sich weit stärker in der Konzeption der Eltern Aarenhold nieder.
Baronin Anna (Ein Glück): Hauptfigur der Skizze von 1903. Baronin Anna erleidet, ebenso wie Tonio Kröger oderder hungernde Detlef, eine der Urszenen im Werk Thomas Manns: das Außenseitertum des "Geistes" im Anblick destanzenden und lachenden "Lebens". Eine besondere Eskalation ergibt sich dadurch, dass die Baronin durch einenFlirt ihres vitalen Gatten öffentlich gedemütigt wird. Da die von ihm umworbene "Schwalbe" ihr folgt und um Verzeihung bittet, bahnt sich indessen auch eine besondere Lösung an: Wie später zwischen Adrian Leverkühn und Rudolf Schwerdtfeger entpuppt sich die Sehnsucht als wechselseitig.
Angela Becker (Anekdote): Hauptfigur der Erzählung von 1908. Der Fall Angela Beckers exemplifiziert die Schopenhauersche These, dass alle Sehnsucht auf einem Irrtum beruhe. Die engelhafte Frau ist das blendende Ideal der ganzen eleganten Gesellschaft, bis ihr ewig beneideter Mann nicht mehr schweigen kann und zum allgemeinen Entsetzen das Bild seiner Ehe-Hölle entwirft: Grausam, schlaff und wahllos untreu, erwache Angela erst abends, bei künstlichem Licht zu einem "gleisnerischen Leben" - "sie wäscht sich ja nicht einmal!". Angela Becker ist damit eine Verwandte Müller-Rosés und Felix Krulls, die ganz ebenso den tiefen Wunsch der Menge nach der künstlerischen Illusion bedienen.
Johnny Bishop (Wie Jappe und Do Escobar sich prügelten): Eigentliche Hauptfigur in der Erzählung von 1910. Johnny Bishop, der noch kindliche, mädchenhaft hübsche Spross eines deutschen Kaufmannes und einer Engländerin, verdankt seiner charmanten Unabhängigkeit eine erotische Wirkung, die sich zunächst als harmlos, dann aber doch von fern als gefährlich darstellt. Der Kampf zwischen Jappe und Do Escobar befeuert und enttäuscht ihn so unverkennbar, dass der wenig ältere Erzähler schließlich sogar bereit ist, für ihn und sein Vergnügen in die Schranken zu treten.
M. Blüthenzweig (Gladius Dei): In der Erzählung von 1901 der Inhaber des Kunstladens, der die Reproduktion des lüsternen Madonnen-Bildes feilbietet. Herr Blüthenzweig entspricht den damals gängigen Klischees vom assimilierten Juden: Ausgestattet mit braunen Augen und einer platten, beständig schnüffelnden Nase über dem Vollbart, erniedrigt er händereibend und unkreativ die Kunst zur Ware. Hieronymus' Gewissen ist für ihn "eine gänzlich belanglose Einrichtung".
Daniel (Beim Propheten): In der Skizze von 1904 der Verfasser der "Proklamationen". Daniel tritt nicht selbstauf, sondern lässt sein Werk inszenieren und von einem "Jünger" verlesen. Fotografisch als junger Mann mit knochigem Raubvogel-Gesicht präsent, lässt sich jedoch auch sein Charakter als "unheimliches Gemisch von Brutalität und Schwäche" erschließen. Orientiert an dem George-Schüler Ludwig Derleth (1870-1948), schilderte Thomas Mann nach Gladius Dei und während der Arbeit an Fiorenza einen weiteren "asketischen Priester", wie er bei Nietzsche im Buche steht: einen herrschsüchtigen Décadent mit religiösem Sendungsbewusstsein. Im Doktor Faustus rückte er die Gestalt als Daniel zur Höhe in die Vorgeschichte des Faschismus ein.
Detlef (Die Hungernden): Hauptfigur der "Studie" von 1902. Ähnlich wie Tonio Kröger oder die Baronin Anna ist der junge Schriftsteller dazu verdammt, die blonde und blauäugige Frau seiner Sehnsucht auf einem Tanzfest einem ebenso naiven Mann - und sich selbst der Eifersucht und spöttischen Wehmut zu überlassen. Sein Hunger nachden "Wonnen der Gewöhnlichkeit" verleitet ihn am Ende dazu, die stille Anklage eines zerlumpten Arbeiters als Irrtum aufzufassen und dessen Elend mit dem eigenen gleichzusetzen. Thomas Mann allerdings ahnte wohl, dass hier selbst Schopenhauers Mitleid nicht alle Unterschiede aufzuheben vermochte - und schrieb in einem Brief an die Brüder Ehrenberg von einem "bis zur Trivialität unbeträchtlichen Schluss".
Der Graf (Der Tod): Ich-Erzähler der Tagebuch-Skizze von 1896. Nach Wanderungen durch die ganze Welt und einer kurzen Zeit des Liebesglücks in Lissabon hat sich der neurasthenische Graf mit seiner zwölfjährigen Tochter Asuncion in den Norden zurückgezogen, um dort zu sterben. Er ahnt das genaue Datum seines Todes voraus und gibt ihm erst dadurch den nötigen Raum - so dass sich die Ahnung als Kleid des Wunsches, als Ausdruck des erlöschenden Lebenswillens entpuppt. Seine dekadente Hoffnung auf ein Ende der Langeweile und der Alltäglichkeit wirdspürbar geringer, als der Tod einen verfrühten Besuch abstattet und sich dabei wie ein Zahnarzt benimmt. Immerhin gehorcht der Herbeigesehnte auch hier dem tieferen Willen des Grafen, indem er zunächst Asuncion mitnimmt.
Der sonderbare Herr (Enttäuschung): Gegenstand der italienischen Skizze von 1896. Rastlos, blöde lächelnd undmit Selbstgesprächen beschäftigt, fesselt er auf der Piazza San Marco tagelang die Aufmerksamkeit des kunstbegeisterten Erzählers, bevor er ihn unvermittelt anspricht und endgültig mit Reflexionen über die falschen Versprechungen der "großen Wörter" verwirrt. In der Figur des Pastorensohns brachte Thomas Mann Nietzsches Kritik an den Lügen der Dichter und an der Sprache selbst auf die Bühne - und erklärte dessen Lebenstragödie aus dem freien Fall von der Höhe literarischer Phantasie auf den Erdboden matter Wirklichkeit.
Hieronymus (Gladius Dei): wortgewaltige Hauptfigur der Erzählung von 1901. Mit Hieronymus versetzte Thomas Mann den Florentiner Dominikaner-Prior Girolamo Savonarola (1452-1498) in das Zentrum des Renaissancekults um 1900. Des Mönches religiöser Zorn gegen das schönheits- und sinnenfrohe München entzündet sich an der Reproduktion eines lüsternen Madonnen-Bildes im Schaufenster eines Kunstladens. Gottes Willen erfüllt er als fanatischer Asket und Moralist zu Geschäftszeiten - mit dem vorhersehbaren Ergebnis seines Rausschmisses. Gladius Dei war von Anfang an als "psychologische Vorstudie" zu Fiorenza geplant. Als Inkarnation von Nietzsches "asketischemPriester" hat Hieronymus eine Fülle weiterer Verwandter im Werk: von Dr. Überbein und Cipolla über Naphta und Krokowski bis hin zu Beknechons und Chaim Breisacher.
Lisaweta Iwanowna (Tonio Kröger): In der Erzählung von 1902 Tonio Krögers intellektuell überlegene Freundin, die ihn nach seiner ausführlichen Darstellung des Problems von Kunst und Künstlertum mit der Lösung, er sei ganz einfach ein verirrter Bürger, "erledigt" und ergo erlöst. Die Malerin mit dem slawischen, "unendlich sympathischen" Gesicht verteidigt das Ideal der Literatur als Weg zum Verstehen und das Ideal des Literaten als Heiligen. In ihrer Veranschaulichung russischer "Menschlichkeit" ist sie eine direkte Vorgängerin Clawdia Chauchats. Gleichnamige Frauengestalten finden sich in mehreren Werken der russischen Literatur - so etwa in PuschkinsPique Dame, Gontscharows Eine alltägliche Geschichte und Dostojewskis Schuld und Sühne.
Francois Knaak (Tonio Kröger, Wie Jappe und Do Escobar sich prügelten, Königliche Hoheit): Ballettmeister in den Erzählungen von 1902 und 1910 sowie in dem Roman von 1909. Kleiner Leute Kind, wird er von der Gesellschaft als Hüter und Lehrmeister des Sittenideals bezahlt. Da er es zudem seiner Rolle gemäß an Männlichkeit fehlenlässt, ist seine Stellung im Leben höchst unsicher. Als Komödiant und "Affe" - nach dem Urteil Tonio Krögers - erreicht er sogar die Nähe der abenteuernden, im Bürgerlichen nur hospitierenden Künstler.
Tobias Mindernickel (Tobias Mindernickel): Titelfigur der Erzählung von 1897. Tobias Mindernickel ist bereitseiner jener Sonderlinge, die im Doktor Faustus die neurotische "Unterteuftheit" einer Stadt sichtbar machen. Sozial deklassiert und stets gehetzt von einem Schwarm höhnender Kinder, entdeckt der unglückliche Mindernickel das Mitleid als letztverbliebene Erscheinungsform der Macht. Er rächt sich am Leben selbst, indem er ein vitales Hündchen kauft, kommandiert und, nachdem es versehentlich in sein Messer gerannt ist, auch pflegt. Als das Hündchen gesundet und die Enklave der Leidensgemeinschaft verlässt, nimmt Tobias das Messer, um den früherenZustand wiederherzustellen, und verletzt das Tier tödlich. Thomas Mann exemplifizierte mit Tobias Mindernickel den "Menschen des Ressentiment" aus Nietzsches Genealogie der Moral.
Lobgott Piepsam (Der Weg zum Friedhof): Hauptfigur der "Groteske" von 1900. Lobgott Piepsam, ein Säufer aus leicht nachvollziehbaren Gründen, verwitwet und von aller Welt verlassen, sucht auf dem Weg zum Friedhof Streitmit dem "Leben"- in Gestalt eines blonden, blauäugigen und sehr selbstbewussten Radfahrers. Schnell unterlegen, steigert er sich in einen geradezu biblischen Zorn und bricht schließlich zusammen. Duelle mit dem personifizierten Leben haben außer ihm auch Tobias Mindernickel, die Buddenbrook-Kinder oder Detlev Spinell auszufechten.
Albrecht van der Qualen (Der Kleiderschrank): Hauptfigur der "Geschichte voller Rätsel" von 1898. Ohnehin "haltlos" und der Auffassung, alles müsse in der Luft stehen, erwacht der todkranke van der Qualen während eines Haltes auf der Zugfahrt von Berlin nach Florenz, steigt schlaftrunken aus und überschreitet mit dem namenlosenFluss einer unbekannten Stadt die Grenzen zur Unterwelt. Zusätzlich der Tabak- und Alkoholgenuss befähigen ihn, im Kleiderschrank des angemieteten Zimmers eine nackte, kindliche Frau zu sehen, die ihm von nun an, solange er nicht die Hände nach ihr ausstreckt, Geschichten mit idyllischen Anfängen und grausigen Schlüssen erzählt. Allerdings ist am Ende nicht einmal sicher, ob er den Zug überhaupt jemals verlassen hat. Van der Qualen istThomas Manns erste Gestaltung eines Schriftstellers; die geheimnisvolle Erscheinung hat literarische Vorbilder in der jungen Frau aus Dostojewskis Wirtin von 1847 und in der geisterhaften Donna Anna in E.T.A. Hoffmanns Don Juan. Die zeit- und raumlose Unterwelt schließlich öffnet sich als eigentlich Schopenhauersche Willensweltnach den Gesetzen der Somnambulie.
Gerda von Rinnlingen (Der kleine Herr Friedemann): Zweite Hauptfigur der Erzählung von 1897, unkonventionelleGattin des neuen Oberleutnants in der Bezirkskommandantur und "femme fatale", die ihre tiefere Kraft gerade aus der Fragilität bezieht. Gerda von Rinnlingen ist eine frühe Gestaltung des Décadents mit dem Willen zur Selbstüberwindung. Sinnlich, nervös und krank, inszeniert sie sich als herrische Jägerin - und versteht den kleinen Herrn Friedemann zu gut, um auch noch Mitleid mit ihm zu haben. Indem sie ihn zum Eingeständnis seiner vitalen Schwäche verführt, löst sie den Zusammensturz seines Lebens-Kunstbaus aus. Dass sie hübsch ist und berauscht, zugleich aber weibliche Anmut vermissen lässt, enthüllt andeutungsweise die homoerotische Natur seiner lange unterdrückten Leidenschaft und damit das eigentliche Thema des Autors.
Bibi Saccellaphylaccas (Das Wunderkind): Hauptfigur der Skizze von 1903. Bibi ist ein typischer Künstler, wieNietzsche ihn am Beispiel Wagners immer wieder kritisiert hat: kindlich und verschlagen, einsam und wirkungssüchtig, ein hochbegabter Komödiant. Seinen wahrhaftigsten Ausdruck findet Bibi zudem mit der harmonischen Verschiebung nach Cis, bei deren Gelegenheit er, damit die ahnungslosen Laien wenigstens etwas zu sehen haben, einen hübschen Augenaufschlag vollzieht - womit er nicht nur ein typisch Wagnerisches Kunstmittel verwendet, sondern auch über dessen "doppelte Optik" für die Kenner und zugleich die breite Masse verfügt. Reales Vorbild warder achtjährige griechische Pianist und spätere Konservatoriumslehrer Loris Margaritis (1895-1953), dessen Münchner Konzert Thomas Mann im Sommer 1903 besucht hatte.
Friedrich Schiller (Schwere Stunde): In der Studie von 1905 ein "Held der Schwäche", wie Thomas Mann ihn schon in Thomas Buddenbrook oder später in Gustav von Aschenbach schilderte: Krank und überreizt, verzweifelt Schiller nächtens am Wallenstein, an seinem Talent, an seinem Ehrgeiz. Zusätzlich der Vergleich mit Goethes Naivität entmutigt den Sentimentaliker, stachelt ihn dann jedoch zu einer weiteren Selbstüberwindung; aus dem sehnsüchtigen Leiden als dem Garanten seiner Kreativität wird erneut die apollinische Form. Thomas Mann schmolz eine Fülle von Schiller-Zitaten ein, porträtierte aber zugleich sich selbst - den vom jungen Ehe-Glück letztlich unkorrumpierten Moralisten der Leistung.
Doktor Selten (Gefallen): Hauptfigur in Thomas Manns erster Novelle von 1894. Selten steht als welterfahrener Ironiker im scheinbaren Kontrast zu dem blutjungen Idealisten Laube, der sich mit übernommenen Redensarten für die Emanzipation der Frau einsetzt. In seiner Erzählung entpuppt sich Selten jedoch selbst als ursprünglich naiver Held, der eine Schauspielerin durch seine romantische Liebe in die Arme der Prostitution trieb. Dass er unschuldig schuldig wurde und gemäß "Moral" nur den Auslöser für den früher oder später unvermeidbaren Fall der Angebeteten lieferte, unterfüttert Laubes Engagement mit dem nötigen Realismus - und lässt umgekehrt Seltens genießerischen Zynismus als bloße Maske des ewigen Sentimentalikers zurück. Der Frau allerdings ist offenbar nicht zu helfen.
Dunja Stegemann (Gerächt): Zweite Hauptfigur in der "novellistischen Studie" von 1899. Ohne weibliche Reize und intellektuell unbefangen, stillt sie das verlogene Bedürfnis des gimpelhaften Ich-Erzählers nach der rein geistigen Kameradschaft mit einer Frau. Als er ihr, um "gleichsam ein Fenster aufzustoßen", seine körperliche Abneigung ausdrückt, pariert sie mit dem Geständnis eines kürzlichen Liebesverhältnisses - was nun doch die "lasterhaften Instinkte" des Erzählers aufrührt und ihm einen Korb einträgt. Die Rolle der überlegenen Freundin übernimmt nur wenig später Lisaweta Iwanowna im Tonio Kröger.