Interviews

Im Gespräch mit Roman Ehrlich

Mit uns spricht Roman Ehrlich über virtuelle Expeditionen, eine Reise mit einem Containerschiff und über das, was ihn am Schreiben am meisten interessiert.

114 Roman Ehrlich
© Foto: Heike Steinweg

Lieber Roman, Dein neues Buch handelt von der untergehenden Insel Malé und ihren Bewohnern, die sich dort eingefunden haben, nachdem der größte Teil der ehemaligen Bevölkerung der Hauptstadt der Malediven die Insel verlassen hat. Was war bei Deinem Schreibprozess zuerst da, die Insel oder die Figuren, die sich von einem solchen Ort angezogen fühlen?

Zuerst habe ich, auf einer meiner virtuellen Expeditionen, auf die ich mich zu Zerstreuungszwecken begebe, die dann aber meistens doch sehr viel mehr Zeit in Anspruch nehmen als vorgesehen, diese Insel entdeckt. Die Stadt erschien mir sofort als ein sehr unwahrscheinlicher Ort. Eine Art Anti-Paradies, wo das Urbane und der Beton das Klischee der Urlaubsinsel komplett überdeckt haben. Ich wollte diesen Ort für einen fiktionalen Text verwenden und dachte, dass sich dafür auch ein fiktionales Personal dort umschauen sollte. Also habe ich mich ganz bewusst dagegen entschieden, selbst auf die Insel zu reisen. Schließlich sollte es im Buch um die Projektionen und Vorstellungen gehen, die den Orten immer von außen übergestülpt werden.   

 

Malé wird im Roman vor dem endgültigen Untergang der Insel zu einem Sehnsuchtsort für Aussteigerinnen und Abenteurer, weil dort ein vermeintlich anderes Leben möglich ist. Ist das Verhalten Deiner Figuren für Dich eine Form von Eskapismus oder gerade das Gegenteil davon?

Die verschiedenen Figuren haben sehr verschiedene Motivationen oder Anlässe, die sie auf die Insel geführt haben. Bei einigen ist Eskapismus sicher das richtige Wort, andere sind auf einer sehr konkreten Suche und haben ein klares Ziel. So gibt es zum Beispiel einen hochbegabten Musiker, der hofft, auf der Insel einem quälenden Ohrwurm entkommen zu können, aber auch einen verzweifelten Vater, der auf der Suche nach seiner vermeintlich auf der Insel zu Tode gekommenen Tochter ist. Wiederum andere suchen die Konfrontation mit sich selbst, eine Konzentration aufs innerste Eigene unter anderen Umständen als den gewohnten. Und dann sind da noch die, die einfach die historische Chance nicht ungenutzt verstreichen lassen wollen, einem Untergang beizuwohnen, mit all den chaotischen und anarchischen Potenzialen, die da freigesetzt werden. 

 

Bei den Figuren gibt es nur selten Momente des Frusts darüber, dass es überhaupt zu diesem Untergang der Insel kommen muss. Ist der Aktivismus, wie wir ihn heute erleben, für Deine Figuren schon etwas aus einer zurückliegenden und abgeschlossenen Zeit?

In jedem Fall ist die Zeit im Buch eine, in der die Mahnungen nicht oder nicht ausreichend gehört wurden und viele der Ziele, die als notwendig für die Abwendung der katastrophalsten Entwicklungen ausgegeben wurden, nicht erreicht. Und dennoch stimmt es, dass die Figuren im Buch nicht ohne Hoffnung sind. Die Visionen müssen eben an den gegebenen Verhältnissen der Zukunft ausgerichtet werden. Vielleicht erscheinen sie aus einer heutigen Position, wo sehr viel paradiesisches Potenzial der Welt noch vorhanden ist und gegen die Zerstörung dieses Potenzials angekämpft wird, als etwas traurig. Ich würde das aber generell als guten Impuls empfinden, wenn den Lesenden beim Lesen die Möglichkeiten der Gegenwart aufscheinen, ohne dass sie expliziert werden müssen. 

 

Die Figuren haben die unterschiedlichsten Interessen, Hoffnungen und Wünsche, die sie mit auf die Insel bringen. Kaum jemand wird das finden, was er gesucht hat. Kann eine solche Projektionsfläche, wie sie die Insel Malé im Buch für die Figuren ist, die Menschen nur enttäuschen?

Zumindest, denke ich, werden sie an diesem besonderen Ort alle sehr unmittelbar darauf zurückgeworfen, was sie sich vorgestellt haben und warum. Während auf den realen Malediven, dem Ferienparadies, in den exklusiven Ressorts alles getan wird, um die Kulissenhaftigkeit dieses Paradieses zu verschleiern und den Touristen die Illusion zu ermöglichen, dass ihre Präsenz gar keinen realen Einfluss auf den Ort und seine unberührte Schönheit hat, müssen die Figuren im Buch, für die niemand mehr diese Verschleierungsarbeit leistet, unweigerlich hinterfragen, weshalb sie dort sind, was sie sich gewünscht haben und woher eigentlich ihre Wünsche und Sehnsüchte kommen, wer deren Urheber ist. Das ist vielleicht das eine Thema, das sich durch all meine Texte zieht, weil es mich unendlich interessiert.  

 

Im Roman wird die Atmosphäre in Malé von einigen Figuren mit der im West-Berlin der 80er Jahre verglichen. Was haben diese beiden Orte für Deine Figuren gemeinsam?

An der besagten Stelle im Buch heißt es über West-Berlin, dass es „ja auch eine Insel gewesen ist, die ein bisschen verloren war und wo auch nur hingewollt hat, wer schon etwas gesponnen hat und mit der ordentlichen Gesellschaft nicht richtig zurechtgekommen ist“. Sowohl das West-Berlin von früher als auch das Malé der Zukunft sind in diesem Vergleich sehr unwahrscheinliche, abgeschlossene und doch zugängliche Orte, Idealinseln, die von den gesellschaftlichen Prozessen betroffen und zugleich enthoben sind, angeschlossen und abgelegen und daher eigenen, anderen Gesetzen unterworfen, die all diejenigen zum Träumen anregen, die mit Gesetzen grundsätzlich Schwierigkeiten haben. Der doch sehr spezielle Vergleich zu West-Berlin kommt wohl aus meiner eigenen Faszination für diesen vergangenen Ort, den ich selbst nicht mehr erlebt habe. Und ebenso, wie mir dieses Westberlin von früher nur über die Geschichten anderer zugänglich ist, ist auch das Malé der Zukunft aus dem Buch nicht real bereisbar, nur durch die Geschichten derer vermittelt, die ihre Hoffnung auf einen anderen Ort, ein möglicherweise anderes Leben da hingetragen haben.   

 

Spielt aus diesem Grund auch im Buch das Geschichtenerzählen selbst so eine große Rolle? 

Ich denke schon. Es gibt diese Figur eines Romanschriftstellers im Buch, der alle neu Ankommenden auf der Insel zum Brathähnchenessen in ein Schnellrestaurant einlädt, damit sie ihm dort ihre Lebensgeschichten erzählen. Er gibt vor, diese Geschichten dann als Romanstoffe zu verwenden bzw. in bestehende Romanprojekte einzubinden. Das ist einerseits natürlich eine Reaktion auf den realweltlichen Schrecken, dem sich alle Schreibenden immer wieder ausgesetzt sehen: dass die Menschen, denen sie begegnen, sie nur als potenzielle Chronisten der eigenen Geschichte, über die man wirklich mal ein Buch schreiben sollte, sehen. Andererseits ist das aber auch ein Konstruktionsprinzip, das sich durch all meine Texte zieht – dass sie bevölkert sind von Figuren im Augenblick des Innehaltens und der Anstrengung, das eigene Leben erzählbar zu machen, um es zu verwirklichen und um mit der Erfahrung des man-selbst-Seins nicht allein sein zu müssen. Die Zeiten und Orte dieser Leben geben den Erzählungen ihre Form und ihren Rahmen und werden dadurch automatisch mitverwirklicht oder aus der nicht-gegenwärtigen Zeit in die Gegenwart des Erzählens geholt.  
 

Wenn ein Roman in diesen Jahren erscheint und die möglichen Folgen des Klimawandels fiktional behandelt, besteht die Gefahr, dass das Buch auf dieses Thema reduziert wird. Hast Du dir beim Schreiben Gedanken darüber gemacht, welche Erwartungen an einen Text entstehen könnten, der vom Untergang einer Insel durch den steigenden Meeresspiegel handelt?

Ja und nein. Niemand wird wohl so naiv sein, von einem Roman die Antwort auf drängende klimapolitische Fragen zu erwarten. Gleichzeitig kann man auch keinen Text, der aus der Gegenwart und der Auseinandersetzung mit den Krisen der Gegenwart heraus entsteht, gegen die Reduktion auf tagesaktuelle Diskurse absichern. Das entzieht sich ja dem Einfluss der Schreibenden. Meine Hoffnung und meine Erwartung an jeden Text, den ich selbst lese, ist, dass er mir einen anderen Wirklichkeitszugang eröffnet. So gehe ich an die Lektüre jedes neuen Textes heran. Je beschränkter die Texte auf aktuelle Debatten sind, je mehr sie reagieren auf den Ruf nach einer Literatur, die x zu sein hat oder endlich y erschöpfend behandeln soll, desto weniger wahrscheinlich ist es, dass sie einen solchen Zugang eröffnen. Weil in ihnen dann ja der aktuelle, zeitgenössische Stand des Denkens, der Welterfassung, der Unfreiheit des Andersdenkens verhandelt wird, der ebenso gut aus den Zeitungen und Nachrichtenportalen herausgelesen werden kann.  

 

Ist dann das Schreiben, wenn es eben nicht den aktuellen Erwartungen folgt, die an einen Text gestellt werden, wie Literatur gerade sein soll oder muss, für Dich in seiner Freiheit und den Möglichkeiten so ein Ort, wie ihn sich die Figuren im Roman von der Insel Malé erhoffen?

Absolut. Das Malé des Buches ist ein literarischer Ort. Nicht umsonst ist eine der Hauptfiguren eine Literaturwissenschaftlerin, die einem verschwundenen Lyriker hinterher reist. Und es ist als Ort der Handlung vielleicht die konsequenteste Metapher auf das Schreiben selbst. Auf die Vergeblichkeit und die Schönheit und die Irrationalität, die Hoffnung ohne Grund, den Einsatz aller Energie, um die Ruinen zu bevölkern, die stille Kontemplation, das Hinausschauen und die Einsicht in die eigene Bedeutungslosigkeit. 

 

Für das Buch »Überfahrt«, das Du mit dem Fotografen Michael Disqué veröffentlicht hast, warst Du auf einem Containerschiff unterwegs und hast tagelang nichts anderes als das Meer gesehen. Wie hat sich diese Erfahrung auf die Beschreibung einer untergehenden Insel ausgewirkt?

Die Fahrt mit dem Containerschiff fiel zeitlich mitten in die Arbeit an Malé. An einem Morgen, als wir den Indischen Ozean durchquerten, waren mit dem Fernglas von der Kommandobrücke aus am Horizont die Palmensilhouetten der nördlichsten Atolle der Malediven zu sehen. Näher bin ich dem Ort nie gekommen. Den Rest der Fahrt durch den Indischen Ozean war schwerer Seegang und kein Land zu sehen. Dass da hunderte Kilometer nichts als Meer ist, in dem man ungeschützt bestenfalls ein paar Tage überleben könnte, ist ja eine eher abstrakte Information, die man beim Schauen dem hinzugibt, was man sieht. Die große Gleichgültigkeit der Elemente und die eitle Anstrengung der Seefahrt, des Versuchs der Unterwerfung und Bezwingung des Gleichgültigen, die man auf so einer Fahrt und bei so einem Anblick erfahren kann, hat aber sicherlich auch in den Roman Eingang gefunden.  

Roman Ehrlich, geboren 1983 in Aichach, aufgewachsen in Neuburg an der Donau, studierte am Deutschen Literaturinstitut Leipzig und an der Freien Universität Berlin. Bislang sind von ihm die Bücher ›Das kalte Jahr‹ (2013), ›Urwaldgäste‹ (2014), ›Das Theater des Krieges‹ (2017, mit Michael Disqué) und ›Die fürchterlichen Tage des schrecklichen Grauens‹ ...

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